Kränkungen sind die Wurzel der meisten Übel in der Welt
Gerichtspsychiater Reinhard Haller glaubt, dass fast jedem menschlichem Problem eine Kränkung zugrunde liegt. Reinhard Haller, der zugleich Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik ist, wird seit Jahren mit der Begutachtung großer Kriminalfälle beauftragt. Bei den Tätern sieht er die auffällige Gemeinsamkeit der Gekränktheit. Kränkungen bedeuten Angriffe auf Selbstachtung, Ehrgefühl und Werte. Sie treffen einen Menschen im Innersten. Und doch haben sie auch eine positiven Einfluss auf die Menschheit – auf ihre Kulturgeschichte und ihr Zusammenleben. Reinhard Haller sieht in der Kränkung die Wurzel der meisten Übel in der Welt. Gleichzeitig redet komischerweise fast niemand über diese Empfindung. Reinhard Haller nennt einen Grund dafür: „Kränkungen sind was für Warmduscher und Weicheier, sagt man sich. Kränkungen sind peinlich. Darum bleiben sie meistens im Verborgenen.“
Eine Demütigung lässt keinen Ausweg mehr zu
Kränkungen kennt jeder, aber keiner kann sie richtig beschreiben. Eine Kränkung ist sehr subtil. Sie breitet sich langsam aus und es reicht manchmal schon eine Kleinigkeit, um nach Jahren eine Katastrophe auszulösen. Die Wirkung einer Kränkung beschreibt Reinhard Haller wie folgt: „Sie erschüttert das Selbst und seine Werte. Sie bewirkt eine tiefe Enttäuschung, vor allem über sich selbst. Kränkung hat eine nachhaltige Wirkung, anders als Wut, die man rauslassen, von der man sich befreien kann.“
Reinhard Haller benennt den Unterschied zwischen Kränkung und Beleidigung oder Demütigung. Die Beleidigung ist seiner Meinung nach die offiziell anerkannte Form. Ob ein Mensch gekränkt ist, hängt ganz von ihm selbst ab, ob er schon einen unfreundlichen Blick oder ignoriert zu werden als kränkend empfindet. Eine Beleidigung kann auch von außen wahrgenommen werden. Davor ist man sogar durch den Gesetzgeber geschützt. Reinhard Haller fügt hinzu: „Die Demütigung ist die schlimmste Form der Kränkung, die keinen Ausweg mehr lässt.“
Eine Kränkung kann zur besseren Selbsterkenntnis führen
Eine Kränkung ist laut Reinhard Haller keine Emotion, sondern eine Interaktion, also ein sozialer Prozess zwischen zwei Menschen. Die Botschaft einer Kränkung ist sehr individuell, und jeder Mensch ist ganz anders verwundbar. Manchen kränkt schon ein schiefer Blick oder ein harmloses Schimpfwort, ein anderer steckt das einfach weg und denkt nicht weiter darüber nach. Eine Kränkung passiert oft unbewusst und unabsichtlich. Die Welt ist voll davon im täglichen Leben. Aber man kann lernen, damit umzugehen, die Erfahrung erträglicher zu machen.
Auf die Frage, wie das funktioniert, antwortet Reinhard Haller: „Man kann eine Kränkung betrachten als Mittel der besseren Selbsterkenntnis, denn ob ich will oder nicht, weist sie mich auf meine sensiblen Stellen hin.“ Man kann sie auch als ein Mittel zur besseren Menschenkenntnis betrachten. Man sagt ja zum Beispiel oft, gerade von dem hätte ich das nicht erwartet. Es zeigt einem Menschen eine bislang unbekannte, aggressive und destruktive Seite seines Gegenübers. Noch ein Punkt kommt hinzu: Jemand, der seine Gekränktheiten bewusst wahrnimmt, der dieses unschöne Gefühl wirklich kennt, hinterfragt sich, ob er sich anderen gegenüber ebenso verhält. Quelle: Welt Kompakt
Von Hans Klumbies