Julia Shaw stellt sogenannte Gedächtnisgenies vor
Es gibt Menschen, die erstaunliche Gedächtnisleistungen erbringen können. Manchmal werden sie Gedächtnisgenies genannt. Julia Shaw erklärt: „Menschen, die nachprüfbar wichtige Informationen nach Belieben abrufen – Minuten, Tage oder Jahre später –, und zwar erstaunlich detailliert.“ Menschen mit übermäßigem Erinnerungsvermögen, Hyperthymesie genannt, können anhand von zwei Merkmalen definiert werden. Erstens verbringen sie einen erheblichen Teil ihrer Zeit damit, über ihre persönliche Vergangenheit nachzudenken, und zweitens haben sie eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich an spezifische Ereignisse aus dieser persönlichen Vergangenheit zu erinnern. Das unterscheidet sie von Menschen mit einem überdurchschnittlichen Gedächtnis, das in der erhöhten Fähigkeit besteht, neue nicht autobiografische Erinnerung erwerben und abrufen zu können. In den letzten Jahren wurden Menschen mit einem weit überlegenen autobiografischen Gedächtnis mit dem Kürzel HSAM bezeichnet. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
HSAMs können einzelne Augenblicke ihres Lebens vollständig erhaschen
Nach einschlägigen Berichten hat man inzwischen mindestens 56 HSAMs auf der ganzen Welt identifiziert. Sie haben vielleicht die Fähigkeit einzelne Augenblicke in ihrem Leben vollständig zu erhaschen. Vielleicht können sie perfekte Engramme von einer bestimmten Szene erzeugen. Der wissenschaftliche Begriff, der dieser landläufigen Auffassung von einem fotografischen Gedächtnis am nächsten kommt, ist „eidetisches Gedächtnis“, und die Wissenschaftler, die es erforschen, erkunden die Grenzen der Fähigkeit, sich an visuelle Informationen zu erinnern.
Ungefähr eine von zehn Personen, bei denen man Autismus diagnostiziert, haben überdurchschnittliche Gedächtnisfähigkeiten. Solche Menschen nennt man Savants. Sie haben aufgrund von Autismus oder einer Hirnschädigung eine schwerwiegende Beeinträchtigung in ihrer Entwicklung, können aber gleichzeitig irgendetwas hervorragend, sich beispielsweise bestimmte Arten von Fakten merken. Ihre Fähigkeiten können Inselbegabungen sein, bei denen jemand spezifische Fertigkeiten aufweist, die im Verhältnis zu seiner Behinderung hervorstechen.
Manche Savants haben besitzen verblüffende Inselbegabungen
Daneben gibt es unter ihnen erstaunliche Savants, die in irgendeiner Hinsicht so brillant sind, dass ihre Gabe selbst bei einem Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen für verblüffend gehalten würde. Die jeweilige Inselbegabung, die ein Savant an den Tag legt, passt eindeutig nicht zu seinen geistigen Fähigkeiten im Allgemeinen. Autismus verbindet man in der Wissenschaft seit langem ebenso mit Amnesie und Hyperthymesie. Auch das Vergessen wird im Allgemeinen als wichtig angesehen.
Der Neurowissenschaftler Dr. André Fenton von der New York University sagt sogar: „Vergessen gehört wahrscheinlich zu den wichtigsten Dingen, die ein Gehirn macht.“ Julia Shaw erläutert: „Ganz ähnlich, wie wir fähig sein müssen, ständig Ablenkungen in unserer Umgebung zu unterdrücken – die Gespräche um uns herum, optische und akustische Eindrücke oder andere offene Fenster im Browser und so weiter –, um uns auf die Aufgabe konzentrieren zu können, die wir erledigen müssen, dürfen wir uns auch nicht von Erinnerungen ablenken lassen, die für unsere aktuelle Situation irrelevant sind.“ Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw
Von Hans Klumbies