Erinnerungen können eingebaute Fehler enthalten
Wenn ein Mensch eine Zeitreise durch seine Erinnerung macht, stellt er vielleicht fest dass einige Ereignisse besonders hervorstechen. Überlegt er, welche Merkmale diese Erinnerungen gemeinsam haben, dann fällt ihm auf, dass es die lebendigsten, emotionalsten, wichtigsten, schönsten oder vielleicht unerwartete Ereignisse seines Lebens sind. Und zwar scheinen sie sich in bestimmten Phasen seines Lebens zu verdichten. Julia Shaw erklärt: „Dieses Phänomen nennt man Reminiszenzeffekt oder auch Erinnerungshügel, und es hilft vielleicht zu verstehen, warum wir von „der guten alten Zeit“ sprechen.“ Die meisten Erinnerungen eines Menschen stammen aus der Zeit zwischen zehn und 30 Jahren. Zudem berichten die meisten Menschen von so gut wie keinen Erinnerungen aus der Zeit unter fünf Jahren. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
An die späten Teenagerjahre können sich Menschen am besten erinnern
Zwischen fünf und zehn Jahren werden die Erinnerungen allmählich mehr und erreichen bei beiden Geschlechtern in den späten Teenagerjahren einen Gipfel. Julia Shaw ergänzt: „Diese Phase hoher Erinnerungsdichte hält an bis in die frühen 20er Jahre, dann beginnt sie abzusinken und stabilisiert sich schließlich für die restlichen Jahrzehnte.“ Dieser Effekt tritt offenbar über alle Kulturen hinweg auf. Eine Erklärung für den Reminiszenzeffekt könnte sein, dass er mit der Entstehung eines echten Selbstgefühls einhergeht, das anscheinend ein weitgehend universelles Phänomen ist.
Auf der Kuppe des Erinnerungshügels treten Erinnerungen in Erscheinung, die einen Menschen definiert haben. Es sind die Erinnerungen, die einen Menschen zu dem gemacht haben, was er ist. Julia Shaw fügt hinzu: „Und ob sie von Wahrnehmungs- oder von Erinnerungsverzerrungen gefärbt wurden oder nicht: Sie sind die Erinnerungen, die uns besonders kostbar sind und die uns am lebhaftesten im Gedächtnis bleiben.“ Und obwohl sie einen Menschen definieren uns derart wichtig für die eigene Identität sind, können die Erinnerungen eingebaute Fehler enthalten.
Jeder menschliche Sinn kann getäuscht werden
Jeder einzelne der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten ist unvollkommen. Der Sehsinn, das Gehör, der Geschmackssinn, das Wärmeempfinden, der Tastsinn, der Gleichgewichtssinn im Innenohr, die Eigenwahrnehmung des Körpers im Raum – jeder dieser Sinne kann getäuscht werden. Der Philosoph George Berkeley hat gesagt: „Esse est percipi“, „Sein ist Wahrgenommenwerden.“ Es kommt also nur auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit an. Das heißt, dass die falschen Wahrnehmungen der Wirklichkeit in das Gedächtnissystem eingespeist und später wieder erinnert werden können, obwohl sie nie die objektive Wirklichkeit abgebildet haben.
Wahrscheinlich jede einzelne Erinnerung – selbst die allerdeutlichste – enthält von vornherein Wahrnehmungsfehler und Unrichtigkeiten. Dabei ist das menschliche Gehirn unglaublich formbar und anpassungsfähig. Es ist für eine Welt der Unsicherheit und eine schnelle Entscheidungsfindung geschaffen, da es von Anfang an in einer rauen Umgebung überleben musste. Möglicherweise sind Erinnerungsfehler ein unvermeidliches Nebenprodukt des anpassungsfähigen Gedächtnisses. Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw
Von Hans Klumbies