Die Traumdeutung des Victor-Emil von Gebsattel
Alle Gründungsväter der Tiefenpsychologie haben eigenständige Theorien über den Traum entwickelt, die zu ihrem Menschenbild und ihrer Weltanschauung passten. Sigmund Freud entdeckte beispielsweise in den Träumen infantile Sexualwünsche, Alfred Adler das Wechselspiel von Minderwertigkeitsgefühl und Machtbedürfnis. Victor von Gebsattel ergänzt die prospektiven Deutungstechniken eines Alfred Adlers durch seine anthropologische Einsicht, dass der Mensch auf allen Ebenen seines Seins ständig Krisen des Werdens ausgesetzt ist, die mit der ihm aufgegebenen Zeitigung seiner Existenz irgendwie identisch sind.
Jeder Traum ist ein individuelles Geschehen
Der Mensch muss sich zu dem machen, was er in der Zukunft sein soll. Versagt er im Hinblick auf die Vielfalt der Anrufe, die ihm aus den jeweiligen Situationen entgegentönen, so kann sich daraus ein Traumgeschehen entwickeln, dessen Symbolik sich auf das aktuelle Krisenthema bezieht. Der Psychotherapeut kann die Krisen des Patienten erhellen, indem er die aktuelle Lebenslage des Betroffen und die in die Zukunft weisenden Tendenzen des Traumes zur Sprache bringt.
Es zeigt sich dann in der Regel, dass der Mensch einen Traum hat, weil er Führung, Ordnung und Ausrichtung seines Daseins im wirklichen Leben nicht ausreichend umzusetzen vermag. Victor-Emil von Gebsattel rät, die Traumsymbole weder sexualistisch noch religiös zu schematisieren. Die Deutung der Traumsymbole ergibt sich für Victor-Emil von Gebsattel aus der Dramatik der menschlichen Gesamtexistenz, in der Sexualität und Religion nur je ein Bestandteil sind. Jeder Traum ist ein individuelles Geschehen.
Kurzbiographie: Victor-Emil von Gebsattel
Victor-Emil von Gebsattel wurde am 4. Februar 1883 in München geboren. Er studierte bei Henri Bergson in Paris, bei Wilhelm Dilthey in Berlin und bei Theodor Lipps in München. Bei letzt genannten promovierte er mit einer Arbeit über die Gefühlstheorie. Als er die Psychoanalyse kennen lernte, war ihm klar, dass ihm eine medizinische Ausbildung fehlte. 1919 schloss er sein Medizinstudium mit einer Dissertation über Tuberkulose ab.
Vor allem seine Forschungen über Zwangsneurosen, Phobien, Depressionen und Perversionen begründeten seinen ausgezeichneten Ruf als Kliniker und Tiefenpsychologe. In seiner so genannten „biographischen Medizin“ ging das philosophische Denken und das wissenschaftliche Forschen eine beachtliche Synthese ein. Victor-Emil von Gebsattel starb am 22. März 1976 im Alter von vierundneunzig Jahren in Bamberg.
Von Hans Klumbies