Die Erscheinungsformen und die Motive der Aggression sind vielfältig
Aggression ist nicht gleich Aggression: Die Erscheinungsformen sind vielfältig und ebenso die zugrunde liegenden Motive. Hans-Peter Nolting fügt hinzu: „Menschen unterscheiden sich in der Art ihrer Aggressivität, und es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Aggressivität.“ Zudem hängt das Auftreten aggressiven Verhaltens nicht nur von Personen ab, sondern auch von den jeweiligen Faktoren der Umgebung, und ihnen wiederum kommt in einem Fall eine entscheidende, im anderen Fall nur eine unwesentliche Rolle für die Erklärung des Verhaltens zu. Weil der Begriff der Aggression ein breites, heterogenes Spektrum umfasst, erscheint es aussichtslos, eine allgemeine Antwort auf die Frage nach „angeboren oder erworben?“ zu geben. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.
Eine Grundausstattung für aggressive Reaktionen könnte angeboren sein
Gewöhnlich meint „angeboren“ genetisch bedingt und wird so verstanden, dass Kinder von ihren Eltern bestimmte Gene geerbt haben, die in der Entwicklung des Kindes ihre Wirkung entfalten. Auf die Frage „Was ist dem Menschen angeboren?“ haben nicht wenige Denker und Forscher versucht, eine Antwort zu geben. Die wohl berühmteste findet sich in einem Briefwechsel, der schon einige Jahrzehnte zurückliegt. Auf eine entsprechende Frage Albert Einsteins schrieb Sigmund Freud im Jahr 1933 folgende Zeilen.
Der Begründer der Psychoanalyse erklärt: „Sie verwundern sich darüber, dass es so leicht ist, die Menschen für den Krieg zu begeistern, und vermuten, dass etwas in ihnen wirksam ist, ein Trieb zum Hassen und Vernichten, der solcher Verhetzung entgegenkommt. Wiederum kann ich ihnen nur uneingeschränkt beistimmen. Wir glauben an die Existenz eines solchen Triebes und haben uns gerade in den letzten Jahren bemüht, seine Äußerungen zu studieren.“ Die heutige wissenschaftliche Psychologie geht davon aus, dass statt eines Triebes zum Hassen, eine Grundausstattung für aggressive Reaktionen angeboren sein könnte.
Mit Beginn des 3. Lebensjahres kann sich Aggression auch gegen Personen richten
Die Annahme bleibt sinnvoll, dass es universell angeborene Reaktionen auf negative Ereignisse gibt, die eine Grundlage für aggressives Verhalten bilden. Hans-Peter Nolting erläutert: „Wenn ein Säugling auf Vorkommnisse, die er als unangenehm empfindet, mit heftigem Schreien reagiert, kann man den Affekt dahinter als einen Vorläufer von Ärger verstehen. Er ist noch nicht feindselig und das Verhalten noch nicht aggressiv, aber aus diesen Grundlagen entwickeln sich nach und nach gezielte heftige Verhaltenswiesen, die zunächst auf Gegenstände bezogen sind und sich etwa mit Beginn des dritten Lebensjahres auch gegen Personen richten können.
Mit der Entwicklung der motorischen und geistigen Fähigkeiten entstehen nach und nach neue und differenziertere Formen der körperlichen und verbalen Aggression, und in diese Entwicklungsschritte fließen sehr viele Lernprozesse ein. Gelernt wird am Modell, indem man Verhaltensweisen anderer Menschen abschaut, besonders von Menschen in der unmittelbaren Umgebung. Gelernt wird auch am Erfolg, wenn man sich mit aggressivem Verhalten durchsetzen oder etwas Unangenehmes abwenden kann. Quelle: „Psychologie der Aggression“ von Hans-Peter Nolting
Von Hans Klumbies