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Die Online-Welt schenkt ein Gefühl der Verbundenheit

Die meisten Menschen lieben die Online-Welt, weil sie ihnen ein ständiges Gefühl der Verbundenheit schenkt. Sie gibt ihnen Zugang zu einem beinahe unbegrenzten Informationsfluss über die Welt. Außerdem bietet sie ihnen ein Forum, das ihnen erlaubt, augenblicklich ihre Erlebnisse und ihre Empfindungen mit anderen Menschen zu teilen. Julia Shaw stellt fest: „Durch diesen Prozess der ständigen Mitteilung sind unsere Erinnerungen Teil einer sozialen Landschaft geworden, zu einem sozialen Bewusstseinsstrom, den wir formen und der uns formt.“ Viele Menschen neigen dazu, beim ersten Anzeichen eines potenziell wichtigen Geschehens ihre Smartphones zu zücken und zu filmen, zu knipsen, zusammenzufassen und zu posten. Noch nie in der Geschichte hatte die Menschheit eine so zuverlässige, unabhängige und umfangreiche Dokumentation bedeutender historischer Ereignisse. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Neue Informationen können die Erinnerung verändern

Diese Möglichkeit, die eigene Einschätzung von Situationen zu bestätigen, ist erstaunlich, aber sie kann auch zu „Erinnerungskonformität“ führen. Nämlich dann, wenn die eigene Denkweise und die persönlichen Erinnerungen zu einer vermischten Version der Berichte werden, die man gesehen und gehört hat, und es unmöglich wird, zu unterscheiden, was eine einzelne Person tatsächlich selbst beobachtet hat. Wissenschaftler untersuchen sogenannte „post-event information“ (nachträgliche Information) – Informationen, die die persönliche Erinnerung beeinflussen kann.

Diese erhält man, nachdem man bei einem Ereignis dabei war oder Zeuge davon wurde. Julia Shaw erläutert: „Sie kann aus vielen verschiedenen Quellen stammen – aus der Diskussion über das Ereignis mit anderen (online oder offline), aus der Lektüre über das Ereignis oder ähnliche Ereignisse, aus dem Betrachten eigener oder fremder Fotos, um nur einige wenige zu nennen.“ Jede Informationsquelle hat das Potential, die eigenen Erinnerungen im Nachhinein zu verändern. Laut dem Psychologen Alan Brown von der Southern Methodist University und seinen Kollegen ist eine weitere Quelle falscher Erinnerungen das „Ausleihen“ von Erinnerungen (memory borrowing).

Erinnerungen sind ansteckend

Dabei eignet sich jemand eine autobiografische Erinnerung eines anderen an und gibt sie als seine eigene aus. Julia Shaw stellt fest, dass der Diebstahl von Erinnerungen besonders oft bei Familiengeschichten vorkommt, und sie ertappt sich gelegentlich dabei, dass sie sich mit einem anderen Familienmitglied vergewissern muss, wie etwas wirklich war. Es ist für Julia Shaw also klar, dass Erinnerungen ansteckend sind. Wenn man eine seiner Erinnerungen preisgibt, haben andere Menschen die Möglichkeit, sie sich anzueignen.

Und wenn man Details aus anderen Quellen in die eigenen Erzählungen von einem Ereignis einwebt, kann man potenziell sowohl richtige als auch falsche Details einfügen. Henry Roedinger und seine Kollegen von der Washington University prägten dafür einen guten Begriff: soziale Ansteckung (social contagion) von Erinnerung. Sie haben gezeigt, dass die Erinnerung eines Menschen von den Erinnerungsfehlern eines anderen angesteckt werden kann; eine Art Wucherungseffekt falscher Erinnerungen. Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw

Von Hans Klumbies

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