Normen sind die Basis einer Gesellschaft
Unter Normen verstand man früher seit Jahrhunderten überkommene Maßstäbe. Ihre Macht war ihre unhinterfragte und verlässliche Gültigkeit. Manfred Lütz ergänzt: „Auf diesem Fundament, so glaubte man, konnte sich die Gesellschaft in gesicherten Bahnen weiterentwickeln.“ Die griechische Tragödie lebt von ausweglos erscheinenden Konflikten zwischen den überkommenen Normen und der Willkür der Herrscher. Groß ragt die Gestalt der Antigone des Sophokles bis in unsere Zeit hinein, die das eigene Leben aufs Spiel setzt, um pflichtgemäß ihren Bruder zu bestatten. Ethos nannte man die Summe der geltenden Normen einer Gesellschaft. Schon die Griechen waren dabei allerdings von der Tatsache konfrontiert, dass es zwar bei ihnen Pflicht der Kinder war, ihre Eltern, wenn sie gestorben waren, zu begraben. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.
Die Globalisierung ist allgegenwärtig
Die Griechen wussten aber auch, dass es in Asien Gegenden gab, wo die Pietät von den Kindern verlangte – ihre toten Eltern aufzuessen. Was also normal ist, was gut ist, zeigt sich erst, wenn man mit dem Ethos einer bestimmten Gesellschaft vertraut ist. Über das Ethos muss man nicht nachdenken, man lebt in ihm, man vollzieht es. Kinder, die in Griechenland ihre Eltern bestatteten, taten das gewöhnlich nicht aufgrund einer theoretischen Überlegung, sondern weil sie wussten, dass sich das so gehörte.
Und Kenntnisse über die merkwürdigen Üblichkeiten im fernen Asien hatte man nur in einigen Gelehrtenstuben. Heute aber ist alles anders. Manfred Lütz erläutert: „Die Entdeckung, Kolonialisierung und Entkolonisierung der ganzen Welt haben zum Phänomen der Globalisierung geführt. Wir Heutigen wissen plötzlich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort nicht mehr genau, was wir dort zu tun haben.“ Denn man kann sich ja in einem beliebigen Moment die Menschen aller Zeiten und aller Weltgegenden vergegenwärtigen – und ihre ganz unterschiedlichen Normen.
Ein normfreies Leben verursacht Stress
Was gilt denn dann noch und warum? Gewiss, diese Einsicht kann einen Menschen lustvoll befreien von allen einengenden Normen, die ihm als Orientierung mitgegeben wurden. Manfred Lütz stellt fest: „Denn es gibt immer anderswo ein glückliches Leben auch ohne diese speziellen Normen, die uns nun mal zufällig geprägt haben.“ Der Preis für eine solche Befreiung ist freilich eine tiefe Verunsicherung. Wenn alle Normen nämlich gleich gültig sind, sind sie dann nicht auch gleichgültig?
„Erlaubt ist, was gefällt“ ist das Motto von Goethes Torquato Tasso. Doch, in den Alltag zurückgekehrt, funktioniert eine solche Befreiung nicht. Wenn nichts mehr unbefragt gilt, tritt Stress ein. Es ist der gleiche Stress, der die Pubertät so anstrengend macht. Weil man alles, wirklich alles, völlig frei höchstpersönlich und natürlich ganz anders als die bisherige Menschheit entscheiden will. Doch nach welchen Kriterien? Wen im Grund alles irgendwo auf der Welt irgendwann einmal normal war oder ist: Was ist dann überhaupt noch normal? Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz
Von Hans Klumbies