Jeder ist von einem Berg an Übeln umgeben
Anderes als frühere Generationen ist der Einzelne heute von einem Berg an Übeln umgeben, für die er unmittelbar verantwortlich ist. Zum Beispiel für die Methoden, mit denen die Rohstoffe für seine Unterwäsche oder sein Handy gewonnen wurden. Ein Smartphone ist der Beweis dafür, dass die gesamte Umgebung ständig von Ausbeutung und Umweltschäden belastet ist. Nadav Eyal stellt fest: „Wir können wenig tun, um das Ausmaß unserer Komplizenschaft einzugrenzen. Außerdem sind wir uns, im Gegensatz zu unseren Vorfahren, dieses moralischen Versagens zutiefst bewusst.“ Selbst wenn man lieber nichts davon wissen will, könnte man zumindest davon wissen. Nun kann der Mensch zum Einsiedler werden und sich ganz von der Zivilisation abkoppeln. Oder er schließt sich Gemeinschaften an, die versuchen, die Ausbreitung dieser Übel zu vermeiden. Nadav Eyal ist einer der bekanntesten Journalisten Israels.
Viele Menschen sind moralisch überfordert
Diese Gemeinschaften lehnen das gesamte industrielle Leben für sich ab. Solche radikalen Entscheidungen nehmen wohl zu und vermutlich entstehen immer mehr Gemeinschaften dieser Art. Doch es ist auch anzunehmen, dass die meisten Menschen diesen Weg nicht beschreiten. Sie müssen damit leben, dass die für sie verfügbaren Informationen zu den Übeln, die sie mitzuverantworten haben, beständig zunehmen. Dagegen nimmt das Empfinden, diese beeinflussen zu können, beständig ab.
Im für die Globalisierung charakteristischen Bewusstseinszustand fühlt sich der Mensch von einem griechischen Chor umringt. Dieser ruft ihm zu: Ausbeutung, Verseuchung, Augenverschließen, Schande, Schande, Schande. Nadav Eyal weiß: „Dieses Bewusstsein ist kräftezehrend und führt zu einer Art moralischen Überforderung.“ Von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ sprach Papst Franziskus einmal in Bezug auf die Haltung der Welt zum Syrienkrieg. Apathie gegenüber den anderen, die Neigung, das Unrecht zu ignorieren, das dem Anderen und Fremden angetan wird, sind in der menschlichen Erfahrung nicht neu.
Verdrängung ist ein psychologischer Schutzmechanismus
Das 20. Jahrhundert war in dieser Hinsicht von allen Epochen die verkommenste. Doch früher gab es die glaubwürdige Erklärung, dass es an zuverlässigen Informationen mangelte. Möglicherweise nahm nicht das Unrecht zu, sondern wuchs das Wissen darüber exponentiell. Die Gleichgültigkeit schlägt manchmal um in eine Revolte, eine Revolte, die aus der Verdrängung entsteht. Die Menschen rebellieren gegen die Machtsysteme, die ihnen Fakten darlegen, die sie nicht akzeptieren wollen.
Und sie tun das, weil ihnen das Verdrängen leichtfällt. Verdrängung ist ein starker und manchmal gesunder psychologischer Schutzmechanismus. Aber sie ist keine gute Methode, um Politik zu gestalten. Wer umweltschädlich handelt und sich vormacht, so schlimm sei es schon nicht, zeigt ein ziemlich menschliches Verhalten. Denn es gibt ein volksnahes und authentisches Bemühen, die Wahrheit wegen ihrer Brutalität zu leugnen. Je weiter die moralische Entfremdung um sich greift und je heftiger die Willkür zuschlägt, desto mehr suchen die Menschen nach Bekanntem und Vertrautem. Quelle: „Revolte“ von Nadav Eyal
Von Hans Klumbies