Das Unbehagen an der Kultur wächst
Die Anforderungen an den Einzelnen durch die Kultur werden immer größer. Denn er muss ständig entsprechende Gruppennormen erfüllen. Der Preis des kulturellen Fortschritts besteht dann laut Sigmund Freud darin, dass der Mensch den hohen und differenzierten Anforderungen einer solchen Kultur nicht gerecht werden kann. Deshalb muss er Schuldgefühle entwickeln, die auf anderem Wege zu kompensieren sind. Armin Nassehi ergänzt: „Die Kulturentwicklung verlangt mit zunehmender Komplexität mehr Normenerfüllung und überfordert den Einzelnen dadurch, dass er gewissermaßen haltlos wird.“ Forderungen der Zugehörigkeit entwickeln sich damit zu Problem und Lösung zugleich. Sie sind Lösung, weil sie dem Einzelnen Anerkennung versprechen. Sie sind das Problem, weil sie letztlich so eine starke Selbstkontrolle verlangen, die Sigmund Freud für geradezu widernatürlich hält. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Die natürliche Ethik bietet nur eine narzisstische Befriedigung
Die Kultur verspricht also Belohnung für etwas, was die Menschen von selbst nicht einhalten können. Das führt dann zu Destruktion und Autoaggression, vor allem wenn die normativen Forderungen zu stark und zu abstrakt sind. Sigmund Freud spricht von „unpsychologischen Vorgehen des Kultur-Über-Ichs“, vor allem in der Forderung „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Diese ist letztlich nicht einzuhalten – umso weniger, je höher sich die moralischen Forderungen erweisen.
Sigmund Freud schreibt: „Die sogenannte natürliche Ethik hat hier nichts zu bieten außer der narzisstischen Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen, als die anderen sind.“ Das Unbehagen, von dem hier die Rede ist, ist ein Unbehagen, das die Positionierung des Einzelnen in seinen sozialen Bezügen meint. Es ist eine Asymmetrie zwischen den Ansprüchen der „Kultur“ und den individuellen Ressourcen und Möglichkeiten. In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ geht Sigmund Freud letztlich so weit, die Passung zwischen dem Menschen und der menschlichen Vergesellschaftung generell in Zweifel zu ziehen.
Die kulturellen Ansprüche überfordern das Individuum
Armin Nassehi stellt fest: „Es ist eine Kritik an der Kultur – im angelsächsischen Sinne würde man von Zivilisation sprechen –, die prinzipiell nicht lösbar erscheint.“ Sigmund Freuds ganze kultur- bzw. zivilisationskritische Perspektive zielt auf Überforderung – kulturelle Ansprüche, die der Mensch letztlich nicht erfüllen kann. Bei aller hehren Form der Moral und der kulturellen, moralischen und religiösen Ansprüche mündet dies fast zwangsläufig in autoritäre Strukturen, um diese Spannung zu bearbeiten.
Das Bezugsproblem bleibt laut Armin Nassehi die Frage der gesellschaftlichen Kohäsion als Gruppenkohäsion. Moderne Vergesellschaftung sieht aus wie eine Vergesellschaftung in Großgruppen. Diese haben hohe Ansprüche an starke Gruppenbindung, an die Bedingungen der Zugehörigkeit, an gemeinsame Werte und normative Vorgaben. Hierin gipfelt die klassische Selbstbeschreibung der gesellschaftliche Moderne, sich in zumeist politischen Begriffen als Kollektivität darzustellen. Quelle: „Unbehagen“ von Armin Nassehi
Von Hans Klumbies