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MeToo wäre ohne Sensibilität undenkbar

Der abwertende Begriff „Snowflake“ wendet die psychische Sensibilität – als vermeintliche Hypersensibilität – ins Polemische. Svenja Flaßpöhler erläutert: „Als „Snowflakes“ werden auf abwertende Weise Menschen bezeichnet, die sich einzigartig wähnen, keine gegenteiligen Meinungen aushalten und extrem empfindlich gegen Reize und Zugriffe von außen sind.“ Unter anderem die Debatte über Trigger-Warnings und Sprachsensibilität, aber auch die Tendenz gesellschaftlicher Singularisierung sind hier angesiedelt. Die ethische Sensibilität findet im 18. Jahrhundert ihre philosophische wie literarische Entfaltung und meint, allgemein gesprochen, die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. Aus Sicht der Historikerin Lynn Hunt ist es alles andere als ein Zufall, dass just in jenem Jahrhundert, in dem die Empathie zum systematischen Gegenstand der Philosophie wurde und die Briefromane Jean-Jacques Rousseaus und Samuel Richardsons tiefe Identifikation mit leidenden Frauenfiguren zu stiften vermochten, auch die Menschenrechte erklärt wurden. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Die Dämpfung der Triebe ist eine Kulturleistung

Globale Bewegungen wie Black Lives Matter und MeToo oder auch, in kleinerem Maßstab, die verbreitete Solidarität mit der Transgender-Community wären ohne diese Form der Sensibilität undenkbar. Und schließlich gibt es die ästhetische Sensibilität. Sie bezeichnet eine Empfindsamkeit für das Schöne wie das Hässliche, die sublimierte Lust des „Augenmenschen“ und das spätmoderne Begehren nach Besonderheit und Resonanz. IN seinem Buch „Resonanz“ analysiert der Soziologe Hartmut Rosa die Sehnsucht nach einer antwortenden Welt, die den Menschen nicht kaltlässt, sondern berührt.

Svenja Flaßpöhler weiß: „Die Gegenwart mit ihren Verwerfungen hat eine lange Geschichte, in der sich die menschliche Sensibilität nach und nach herausgebildet hat.“ In seinem berühmten Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ beschreibt der Soziologe Norbert Elias diese Entwicklung ausführlich und konkret anhand von Praktiken wie Tischsitten, Hygieneregeln oder Ehebräuchen. Affektregulierung und Dämpfung der Triebe sind Kulturleistungen, die zu einer Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens führen.

Der Zwang zur „Affektneutralisierung“ tritt in den Vordergrund

Nämlich zu einer ansteigenden Disziplinierung und Sensibilisierung des Selbst. An die Stelle der äußeren Gewalt trat nach und nach eine innere. Nämlich der Zwang zu rationaler „Langsicht“ und „Affektneutralisierung“. Deren emotionales Pendant war die Etablierung von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen. Kühle Vernunft und brennende Scham, Disziplinierung und Empfindsamkeit: „verschiedene Seiten der gleichen, psychischen Transformation“, wie Norbert Elias schrieb.

Der Begriff der Sensibilität erfuhr im 17. Jahrhundert einen neuen Gebrauch. Verwendet wurde er als Bezeichnung der moralischen und sittsamen Eigenschaften von Edelmännern in der höfischen Gesellschaft. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Wurden durch Gewaltmonopole und Staatenbildung die Befriedung des Alltagslebens wie auch die Durchmischung der Schichten unaufhaltsam vorangetrieben, schritt entsprechend die Sensibilisierung weiter voran. Aus dem Adel verbreitete sie sich nach unten ins Bürgertum und wirkte von dort als gesteigertes Distinktionsbegehren zurück nach oben. Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies

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