Das menschliche Gehirn arbeitet rastlos
So hilflos ein neugeborener Homo sapiens erscheinen mag, so rastlos arbeitet sein Gehirn. James Suzman erklärt: „Angespornt von einem brodelnden Universum aus akustischen, olfaktorischen, taktilen und – nach einigen Wochen – optischen Reizen, entwickelt sich das Gehirn in dieser Phase in atemberaubendem Tempo.“ Schauer neuer Neuronen ketten sich zu Synapsen zusammen und filtern aus dem Gewitter der Sinnesreize Bedeutungen heraus. Dieser Prozess setzt sich durch die gesamte Kindheit und bis ins frühe Jugendalter hinein fort. Zu diesem Zeitpunkt besitzt das Gehirn doppelt so viele Synapsen wie bei seiner Geburt, und phantasmagorische, häufig groteske Imaginationen beflügeln sein Denken. Grundlegende Fähigkeiten, die man in dieser Lebensphase erwirbt, erweisen sich, kaum verwunderlich, als diejenigen, die man in späteren Lebensjahren intuitiv und instinktiv beherrscht. James Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson Collage der Cambridge University.
Die Anpassung des Gehirns ist ein ständiger Prozess
Mit Beginn der Pubertät beginnt der menschliche Organismus die Masse der in der frühen Kindheit geknüpften synaptischen Verbindungen zu lichten. Deshalb verfügen die meisten Menschen beim Erreichen des Erwachsenenalters nur noch über halb so viele Synapsen wie beim Eintritt in die Pubertät. James Suzman erläutert: „Diese Auslichtung von Synapsen ist für die Entwicklung des erwachsenen Gehirns ebenso wichtig wie die vorausgegangene Periode des stürmischen Wachstums.“
Im Zuge dieses Prozesses lernt das Gehirn, seine Prozesse zu optimieren, um besser mit äußeren Anforderungen klarzukommen und die eigenen Energieressourcen dort zu konzentrieren, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Das ist ein Prozess, in dessen Verlauf die unterforderten synaptischen Verbindungen verkümmern und absterben. Der Prozess der fortschreitenden Anpassung des menschlichen Gehirns an die Umwelt, in der Menschen leben, endet nicht an dieser Stelle.
Menschen lernen aus Erfahrung
Er setzt sich vielmehr in Gestalt neuraler Umgruppierungen und Umprägungen im Erwachsenenalter und im Grunde bis zum Lebensende fort. Auch wenn im Greisenalter das treibende Moment eher Rückentwicklung ist als Wachstum oder Regenerierung. Es ist ironischerweise gerade die außerordentliche Plastizität des Gehirns in den frühen Lebensphasen und ihre Abnahme mit zunehmendem Lebensalter, die dafür verantwortlich sind, dass man sich im Alter immer mehr gegen Veränderungen sträubt.
Menschen tun sich daher schwer, Gewohnheiten, die sie in sehr frühem Alter angenommen haben, später abzulegen. Sie bilden sich gerne ein, ihre kulturellen Überzeugungen und Werte seinen in einem fundamentalen Sinn Ausdruck ihres innersten Wesens. Zudem tun sie die Überzeugungen und Werte anderer, die mit ihren eigenen kollidieren, gerne als widernatürlich und unmenschlich ab. Kognitiv flexible Lebewesen verfügen über die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen. Für sich allein betrachtet, hat ihre Flexibilität jedoch Grenzen. Denn sie erfordert doch, dass jedes Individuum dieselben Lektionen von der Pike auf lernt. Quelle: „Sie nanntes es Arbeit“ von James Suzman
Von Hans Klumbies