Hochbegabung sieht man nicht
Es existiert ein Vorurteil, das anscheinend von jeher auf theoretische Denker gemünzt war. Jakob Pietschnig weiß: „Kaum einer, dem man nicht eine gewisse Realitätsferne oder mangelnde Alltagstauglichkeit vorwirft.“ Hochbegabung ist etwas, das man nicht sieht, das man aus ihren vermeintlichen Defiziten heraus definieren kann. Ein Mangel an Sinn für das Praktische lässt nicht automatisch den Umkehrschluss zu, nämlich dass es sich bei demjenigen um ein Genie handeln müsse. Die geistige, aber auch körperliche Gesundheit von Hochbegabten war etwa Gegenstand einer Langzeitstudie, die der US-amerikanische Psychologe Lewis M. Terman im Jahr 1928 initiiert hatte. Sie trägt den Namen „Genetic Studies of Genius“. Es handelt sich dabei um eine der ältesten und auch längsten Längsschnittstudien in der Geschichte der psychologischen Forschung überhaupt. Jakob Pietschnig lehrt Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Wien.
Hohe Intelligenz geht nicht mit psychischer Schwäche einher
Zu Beginn der Studie in den 1920er-Jahren war die Meinung vorherrschend, dass hohe Intelligenz im Allgemeinen mit physischer Schwäche und emotionaler Instabilität einhergeht. Wissenschaftliche Belege dafür gab es aber nicht. Jakob Pietschnig blickt zurück: „Im Fokus der Studie stand so der Lebensweg hochbegabter Kinder. Um diese zu identifizieren, bat Terman Lehrer in Kalifornien, ihm jeweils das klügste, das zweitklügste und ferner das jüngste und älteste Kind in der Klasse zu benennen.“
Diese Kinder wie auch ihre Geschwister unterzog er dann mehreren Intelligenztests. Diese 250.000 Kinder bekamen in weiterer Folge einen Gruppenintelligenztest vorgelegt. Erreichten sie dort einen Intelligenz Quotienten (IQ), der niedriger als 130 war, schieden sie aus. Erreichten sie allerdings einen höheren IQ, wurden sie in einem Individualsetting mit der Langform des Stanford-Binet-Intelligenztests getestet. Diejenigen, die dort einen IQ von 140 oder höher erreichten, nahm man in die Hauptstudie auf.
Die Hochbegabten heben sich von der Allgemeinbevölkerung ab
Jakob Pietschnig erläutert: „Das waren immerhin über 1.500 Schüler, die allesamt weit überdurchschnittlich auf der damals modernsten Intelligenzbatterie abgeschnitten hatten.“ Man kann also davon ausgehen, dass diese Kinder kognitiv außergewöhnlich begabt waren. Diese Stichprobe von 1.500 Schülern kontaktierte und untersuchte Lewis M. Terman in regelmäßigen Abständen. Er befragte sie im Laufe der Zeit unter anderem über ihre Bildungskarriere, höchste abgeschlossene Ausbildung, ihr Einkommen und ihren Beruf.
Terman wollte also feststellen, ob sich die ungewöhnlich hohen Testergebnisse im Schulalter auch in den Lebenswegen der betroffenen Personen widerspiegelten. In den 1950er-Jahren waren so gut wie alle Studienteilnehmer mit ihrer formalen Ausbildung fertig. Von diesen hatten 70 Prozent der Männer und 67 Prozent der Frauen ein Bachelorstudium abgeschlossen. Auch in vielen anderen Bereichen hoben sich die Hochbegabten von der Allgemeinbevölkerung ab. Sie waren gesünder, hatten überdurchschnittlich hohe Heirats- und niedrige Scheidungsraten. Quelle: „Intelligenz“ von Jakob Pietschnig
Von Hans Klumbies