Opfer erhalten soziale Wertschätzung
Wer sich glaubwürdig als Opfer gesellschaftlicher Unterdrückung zu repräsentieren vermag, darf mit besonderer sozialer Wertschätzung rechnen. Alexander Somek erläutert: „Ein Opfer verdient Aufmerksamkeit, Zuwendung und vielleicht sogar Unterstützung. Immerhin gehört es zum Opfersein, gelitten zu haben.“ Einem Opfer gebührt Kompensation oder wenigstens deren spiritueller Ersatz, die „Heilung“. Nicht zuletzt wegen der Leidzuschreibung begegnet man Opfern mit der Vermutung, sie hätten mit Widrigkeiten zu ringen oder mit ihnen einmal zu kämpfen gehabt. Ihre Widerstandskraft mag Bewunderung hervorrufen. Eine Person, die Opfer gewesen ist und es dennoch geschafft hat, als etwas zu gelten, muss wohl Ungewöhnliches geleistet haben. Sie hat „überlebt“. Wenn sie aus der Opfersituation heraus Erfolg und Prestige erntet, dann fällt der Abglanz des Heldentums auf sie. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Man kann mehr oder weniger Opfer sein
Der Status des Opferseins erweckt den Eindruck, skalierbar zu sein. Man kann mehr oder weniger Opfer sein. Alexander Somek erklärt: „Das hängt damit zusammen, dass gesellschaftlich unterschiedliche Ursachen für den Opferstatus anerkannt sind.“ So mag man davon ausgehen, dass die nach oben offene Skala des Opferstatus dem Frausein die Zahl „eins“ verleiht, weil die betreffende Person aus einem Grund – aufgrund ihres Geschlechts – Gefahr läuft, im Berufsleben und im privaten Bereich jemandem zum Opfer zu fallen.
Wenn eine Frau wegen ihres Teints auch sozial als „fremdländisch“ gilt, dann erhöht sich ihre Statuszahl auf „zwei“. Die Arithmetik täuscht allerdings. Alexander Somek stellt fest: „Der Opferstatus ist nämlich grundsätzlich ein in sich ungleicher. Die Frauen machen immerhin beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung aus, und sie sind Jahrtausende lang diskriminiert worden. Das verleiht ihrem Opfersein eine besondere Gravität, zumal im Verhältnis zu Minderheiten.“
„Rassendiskriminierung“ ein besonders großes Übel
Zu diesen Minderheiten gehören aber gewiss auch Menschen, die aufgrund ererbter, sichtbarer Merkmale sozial als Angehörige einer „Rasse“ gelten. Alexander Somek fügt hinzu: „Im Vergleich zur Unterdrückung des halben Teils der Menschheit mag sich die Unterdrückung einer Minderheit als geringfügig ausnehmen. Aber dafür ist umgekehrt eine „Rassendiskriminierung“ ein besonders großes Übel.“ Die Sklaverei und die Apartheid gehören zu den schlimmsten Sünden der Menschheitsgeschichte.
Sie lassen sich nicht als weniger schwerwiegend als die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts abtun. Alexander Somek vermutet daher, dass die Faktoren, die Ausschlag über den Opferstatus geben, miteinander unvereinbar sind, weil sie sich nicht wechselseitig ineinander übersetzten oder ausdrücken lassen. Die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist daher nicht schlimmer oder weniger schlimm als die Diskriminierung aufgrund der Rasse. Sie ist aber auch nicht dasselbe. Quelle: „Moral als Bosheit“ von Alexander Somek
Von Hans Klumbies