Gerechtigkeit hat für viele einen hohen Wert
Gerechtigkeit wird von manchen Menschen so verstanden: „Wenn ich etwas gebe und dafür auch das Versprochene zurückerhalte, das ist fair.“ Austauschbeziehungen und Schuldausgleich sind wichtig. Betrug bedeutet das Gegenteil dazu, etwas zu bekommen, aber nicht dafür zu geben. Helga Kernstock-Redl weiß: „Für viele ist das Streben nach dieser Form von Gerechtigkeit ein enorm hoher Wert.“ Sie leben nach der inneren Regel: „Geben und Nehmen sollen in meinem Leben in Balance sein.“ Schuldgefühle motivieren Menschen dazu, diesem Grundsatz treu zu bleiben. Es durchzieht als Grundprinzip daher viele Lebensbereiche, von großen, lebenswichtigen bis hinunter zum Austausch von Grüßen oder guten Wünschen. Jeder Mensch führt dabei permanent, automatisch und manchmal durchaus penibel innere Verdienst- und Schuldkonten. Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.
Schuld oder Verdienst reicht manchmal bis in die nächste Generation hinein
Auf diesen Konten müssen sich langfristig die Ein- und Ausgänge die Waage halten, sonst entsteht Unzufriedenheit. Helga Kernstock-Redl fügt hinzu: „Immer, wenn ein Mensch etwas für den anderen tut, zahlt er sozusagen etwas auf dessen Konto ein, bei ihm selbst entsteht ein Minus, weshalb er bewusst oder unbewusst erwartet, etwas Vergleichbares, vielleicht sogar mit Zinsen, zurückzubekommen.“ Das beginnt bei Kleinigkeiten: Man grüßt jemanden. Wird der Gruß nicht erwidert, wird man früher oder später selbst aufhören zu grüßen.
Noch mehr spürt man das bei großen Dingen, wo man zum Beispiel einem anderen Menschen zuliebe etwas Lebensentscheidendes tut oder auf etwas verzichtet: „Wegen dir habe ich meinen Job aufgegeben. Jahrelang habe ich mich um deinen Onkel gekümmert. Immer habe ich getan, was du wolltest, sogar meine geliebte Wohnung habe ich verkauft.“ Irgendwann will die Rechnung beglichen sein. Helga Kernstock-Redl ergänzt: „Manchmal reicht eine solche Schuld oder ein Verdienst sogar in die nächste Generation hinein.“
Durch ein inneres Ungleichgewicht entsteht ein Gefühl von Ungerechtigkeit
Helga Kernstock-Redl stellt fest: „Das alles kann offen, also ausgesprochen und schriftlich, oder verdeckt – unausgesprochen, informell, auf Basis innerer Regelungen und Erwartungen, die nicht unbedingt bekannt oder allgemein anerkannt sind – passieren.“ Je stabiler und/oder geduldiger eine Person ist, umso länger kann sie mehr geben als bekommen, ohne sich als Opfer zu fühlen, und umso länger kann sie mehr bekommen als geben, ohne sich schuldig zu fühlen.
Irgendwann jedoch ist für jede Person eine Grenze erreicht und sie kommt in ein inneres Ungleichgewicht. Helga Kernstock-Redl erläutert: „Das Gefühl von Ungerechtigkeit entsteht. Und das ist grundsätzlich wichtig und richtig so, denn nur so verhindern wir das Ausgenutzt-Werden oder ein Ausnutzen von anderen!“ Doch auch hier gilt natürlich: Zu viel des Guten ist schlecht. Es gibt Menschen, die gar keine freudvolle Dankbarkeit fühlen können, wenn ein Geschenk oder eine andere Form der Zuwendung sofort quälende Schuldgefühle zur Folge hat. Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl
Von Hans Klumbies