Es gibt zwei Arten von Bedürfnissen
Wenn es um Bedürfnisse geht, kennen viele Menschen Abraham Maslow, einer der berühmtesten Psychologen seiner Zeit, der weit über die Grenzen der Psychologie bekannt ist. Ingo Hamm weiß: „Maslow hat bereits in den 1940er-Jahren die nach ihm benannte Bedürfnis-Hierarchie aufgestellt, in der „Theorie of Human Motiviation“ (1943), die jeder Studierende der Geistes- und Wirtschaftswissenschaften kennt.“ Diese wurde jedoch nie von Abraham Maslow als Pyramide dargestellt, wie sie heute aber meistens falsch zitiert wird. Vielmehr unterschied er zwei Arten von Bedürfnissen; zum einen die sogenannten Defizitbedürfnisse. Dazu zählt er erstens physiologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst. Zweitens gehören dazu das Sicherheitsbedürfnis wie körperliche und gesellschaftliche Absicherung. Drittens gibt es soziale Bedürfnisse wie zum Beispiel den Anschluss an eine Gruppe. Viertens existieren individuelle Bedürfnisse nach Stärke, Erfolg, Status und Prestige. Dr. Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt.
Jeder Mensch sollte etwas für sein inneres Wachstum tun
Sie heißen Defizitbedürfnisse, weil sie Menschen antreiben, wenn sie defizitär werden. Ingo Hamm stellt fest: „Diesen basalen Bedürfnissen übergeordnet sind die Wachstumsbedürfnisse, zum Beispiel Selbstverwirklichung und Selbsterweiterung. Das sind die Bedürfnisse, unser ganzes Potenzial, das uns mitgegeben wurde oder das wir erworben haben, auszuleben und auszuschöpfen und nicht bestimmte Teile und Talente von uns zu verdrängen und in den Keller des Unterbewusstseins zu sperren.“
Das sind typische Entwicklungsmotive: Menschen möchten gerne dazulernen – wenn man sie nicht zu sehr unter Druck setzt –, besser werden, größere Kompetenzen erwerben. Ingo Hamm erklärt: „Beide Arten von Bedürfnissen harmonieren gut miteinander.“ Wenn eines der vier Defizitbedürfnisse nicht befriedigt ist, werden Menschen aktiv. Wenn dagegen bei einer konkreten Aufgabe und Wachstumsbedürfnis nicht befriedigt wird, entsteht Langeweile. Dann suchen Menschen nach dem Sinn des Lebens, anstatt etwas für ihr inneres Wachstum zu tun.
Ab 35 Jahren aufwärts ändern sich die Bedürfnisse
Ingo Hamm erläutert: „Je älter wir werden, desto wichtiger wird das Wachstumsbedürfnis in uns. Je älter wir werden, desto mehr wollen wir innerlich und charakterlich wachsen, oft sogar ins Spirituelle, Esoterische, Religiöse oder Mythische hinein.“ Ein junger Mensch ist oft schon zufrieden, wenn er satt ist und sicher, mit den Kumpels und Mädels abhängen kann und etwas gilt in der Gruppe. Den meisten ab 35 aufwärts reicht das jedoch zunehmend nicht mehr.
Ab einem gewissen Alter bemerken Menschen die fehlende Befriedigung des Wachstumsmotivs immer schmerzlicher. Manche kennen Abraham Maslow nicht und können daher diesen Midlife-Schmerz nicht korrekt einordnen, weshalb sie sich dann mit 52 eine Harley zulegen, quasi als Belohnung für die erste, überraschend früh verordnete Darmspiegelung. Ingo Hamm ergänzt: „Weil sie meinen, dass das – also die Harley, nicht das Erlebnis beim Proktologen – in ihrem Leben fehlt, anstatt zu erkennen, dass es nicht das ist, sondern das zu lange vernachlässigte Wachstumsmotiv.“ Quelle: „Sinnlos glücklich“ von Ingo Hamm
Von Hans Klumbies