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Der Krieg verursacht traumatische Neurosen

„Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größtmöglichen Vereinfachung als undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz vor“: So schreibt Sigmund Freud im Jahr 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“, um die Funktionsweise des seelischen Apparates zu illustrieren. Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Der Anlass, der Freud zu diesem Bild des reizbaren Bläschens führt, ist der „schreckliche, gerade abgelaufene Krieg“, der einen massenhaft verbreiteten Krankheitszustand mit dem Namen „traumatische Neurose“ verursacht habe.“ Traumatische Neurosen treten nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahnzusammenstößen und anderen mit Lebensgefahr verbundenen Unfällen auf; die Folge sei eine allgemeine „Schwächung und Zerrüttung der seelischen Leistungen“. Das Besondere bei den Kriegsneurosen sei, dass das dazugehörige Krankheitsbild mitunter „ohne Mithilfe einer groben mechanischen Gewalt zustande kam“. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Der Organismus ist ein sensibles Bläschen

Sprich: Die schwere Erschütterung des seelischen Apparats ist im Fall des Kriegstraumas oft anderer, nichtmechanischer Natur. Genau diese Art der Erschütterung nun versucht Sigmund Freud anhand des Bläschens zu erläutern. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Unter normalen Umständen sei das Bläschen durch eine „Rinde“ geschützt, die äußere Reize dämpfe und filtere, sodass sein Inneres sicher bleibt.“ Diese Rinde selbst bilde sich durch „unausgesetzten Anprall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens“ heraus, wodurch sie ihre schützende Gestalt gewinnt.

Sigmund Freud spricht diesem Reizschutz eine „beinahe wichtiger Aufgabe“ zu als der Reizaufnahme. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Übergroße, von außen eindringende Energiemengen können das Bläschen nämlich nachhaltig zerstören.“ Sigmund Freud schreibt: „Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische.“ Der lebende Organismus: ein sensibles Bläschen mit einer feinen Membran als Außenhülle.

Menschen können sich gegen Reizüberflutung schützen

Die biologische Zellmembranforschung seiner Zeit offenkundig aufnehmend, überträgt Sigmund Freud sie sinnbildlich aufs Psychische. Svenja Flaßpöhler erläutert: „Die Membran schützt dabei nicht nur, sondern sie ist gleichzeitig jene sensible Oberfläche, die den Organismus mit der Außenwelt verbindet, ausgesuchte Reize durchlässt und das Innere auf diese Weise strukturiert, gestaltet.“ So stünden bei „hochentwickelten Organismen“ an der Körperoberfläche „die Sinnesorgane“ in der Funktion des Reizschutzes.

Sigmund Freud schreibt: „Es ist für sie charakteristisch, dass sie nur geringe Quantitäten des äußeren Reizes verarbeiten, sie nehmen nur Stichproben der Außenwelt vor; vielleicht darf man sie Fühlern vergleichen, die sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder von ihr zurückziehen.“ Unüberhörbar schwingt hier Georg Simmels Beobachtung mit, dass der Mensch sich gegen die „Reizüberflutung“ moderner Großstädte nur durch „Blasiertheit“ schützen könne. Svenja Flaßpöhler betont: „Auch das in jüngster Zeit viel beachtete und der Blasiertheit gerade entgegengesetzte Phänomen der Hypersensibilität klingt an.“ Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies

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