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Empathie gilt als hochanständige Eigenschaft

Empathie im Sinn von Mitgefühl oder von Basis-Empathie, also Mitleid, wirkt auf den ersten Blick so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. Helga Kernstock-Redl erläutert: „Sie gilt als hoch anständige Eigenschaft bei uns Menschen. Grundsätzlich ist es natürlich eine Eigenheit, die in der Bevölkerung unterschiedlich stark vertreten ist. Bitte glauben Sie nicht, dass zum Beispiel Frauen im Durchschnitt empathischer sind als Männer.“ Sie sind nur motivierter, empathisch zu sein, und zeigen es öfter – besonders dann, wenn es von ihnen in einer bestimmten Situation erwartet wird. Vielleicht haben sie häufiger das innere Gesetz verankert: „Ich muss empathisch sein.“ Oder: „Ich muss Erwartungen erfüllen.“ Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.

Empathische Menschen bleiben ihrem inneren Kodex treu

Helga Kernstock-Redl weiß: „Grundsätzlich gilt natürlich: Es sind tatsächlich oft sehr wertvolle, empathische, extra ehrgeizige, verantwortungsvolle oder fürsorgliche Personen, die viele Regeln haben und Schuldgefühle vermeiden wollen – und deshalb sehr „willensstark“ und konsequent ihrem inneren Kodex treu bleiben.“ Das bewundern die meisten anderen Menschen irgendwie, sogar wenn die Folgen manchmal selbstschädigend sind. Die Geschichte einer Person oder einer Gruppe, die bis zum bitteren Ende ihre Überzeugungen hochhält und dafür kämpft, assoziiert man wohl mit Selbstdisziplin und Charakterstärke.

Das gilt für reale Menschen, die sich für andere überdurchschnittlich stark engagieren, aber auch für fiktive oder historische Figuren wie Michael Kohlhaas, Don Quichotte oder die japanischen Samurai. Helga Kernstock-Redl erklärt: „Deren Ehrenkodex beeinflusst übrigens auch heute noch Mentalität und Wirtschaft ihres Landes. Die europäischen Rittertugenden hingegen haben sich kaum im Bewusstsein gehalten und finden lediglich im Wort Ritterlichkeit einen positiven, wenn auch verstaubten Nachhall.“

Ungezähmte Empathie kann gute Menschen ungut machen

Wenn man nun glaubt, dass empathiearme Menschen frei von Schuldgefühlen sind, irrt man sich vermutlich. Helga Kernstock-Redl stellt fest: „Der „Ehrenkodex“ von Sadisten, Soziopathinnen und Schwerstverbrechern ist zwar für einen Durchschnittsmenschen wie mich sicher nicht nachvollziehbar, doch auch sie können Regeln haben, die bei Missachtung Schuldgefühle erzeugen.“ Die Hintergründe von asozialen Verhalten zu verstehen, bedeutet selbstverständlich nicht, es zu entschuldigen oder zu dulden. Doch in der psychologischen Arbeit ermöglicht eine solche Forschungsreise, betroffene Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, und sie dabei zu begleiten, das Alte infrage zu stellen und die eine oder andere sozial akzeptablere Regel zu entwickeln.

Bei ausgeprägter Soziopathie stehen die Erfolgschancen zwar eher gering, aber glücklicherweise gibt es Mischformen. Und außerdem können Menschen lernen, sich nicht aus Schuld- oder Mitgefühl, oder doch aus Vernunft, Respekt oder Angst an soziale und moralische Regeln zu halten. Doch zurück zur Empathie: Helga Kernstock-Redl behauptet, stark ausgeprägte, ungezähmte Empathie kann gute Menschen ungut machen. Das ist der Grund, wieso leidende Personen nicht immer die Zuwendung bekommen, die sie eigentlich verdienen. Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl

Von Hans Klumbies

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