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Das Spießertum wurzelt im Konformismus

Die Wurzel des Spießertums liegt nicht im Konservatismus, sondern im Konformismus. Der „Well Respected Man“ verschafft sich, heute wie früher, Respekt durch Anpassung. Pauline Voss erläutert: „Nicht individuelle Entscheidungen mehren sein Ansehen, sondern die Unterdrückung seiner Individualität. Die Kontrollinstanz ist eine unsichtbare: Hinter den Gardinen stehen die Nachbarn, selbst nicht einzusehen, und beobachten, ob der Anstand gewahrt wird.“ Dem „Well Respected Man“ bescheinigen sie geistige und körperliche Reinheit. Noch heute dokumentiert man seine Reinheit durch die Unterwerfung unter den Zeitgeist. Spätestens in den Siebzigerjahren entwickelt sich die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit zum Ideal. Die gesellschaftlichen Normen sind die Front, an der eine ganze Generation ihre Freiheitskämpfe ausficht. Es ist auch die Freiheit der Minderheiten und unterdrückten Gruppen, die dort erkämpft wird: von Frauen, Schwulen und Lesben. Pauline Voss ist seit 2023 als freie Journalistin tätig.

Durch eine veränderte Sprache könnten sich die Verhältnisse wandeln

Ab den Neunzigerjahren verschiebt sich der Freiheitskampf jedoch: Nicht mehr nur die Verhältnisse sollen verändert werden, sondern auch die gesellschaftliche Diskurse, die diese Verhältnisse beschreiben und sie durch die Beschreibung angeblich prägen. Pauline Voss fügt hinzu: „Die unterdrückenden Diskurse müssen dekonstruiert werden; erst durch eine veränderte Sprache könnten sich die Verhältnisse wandeln: Dieser Schluss wird aus der Lektüre jener französischen Philosophen gezogen, die dem Poststrukturalismus zugerechnet werden.“

Als „French Theory“ finden die Ideen von Michel Foucault, Jacques Derrida und anderen Denkern Eingang in die akademischen Debatten der Vereinigten Staaten. Pauline Voss weiß: „Dort entsteht, was heute als „Identitätspolitik“ bezeichnet wird und längst auch in Europa die Debatten bestimmt.“ Wissenschaftszweige wie die Genderstudies, Critical Race Theory oder Postcolonial Studies befassen sich mit der Diskriminierung von Minderheiten, verfolgen dabei aber eine Agenda, die weit über eine bloße Untersuchung der Welt hinausgeht: Die Wissenschaftler wollen die Welt verändern.

Die Identitätspolitik strebt die Kontrolle über das Gesagte an

Die Theorien der Dekonstruktion werden dabei in einen Imperativ der Rekonstruktion umgewandelt. Pauline Voss ergänzt: „Die Kräfte, die noch immer für sich in Anspruch nehmen, die Rechte von Minderheiten zu vertreten, haben längst die Deutungshoheit erlangt.“ Das bedeutet allerdings nicht, dass sich in gleichem Maße die Verhältnisse für Minderheiten verbessert haben, denn darauf zielt die Identitätspolitik nicht ab: Sie strebt die Kontrolle über das Gesagte an.

Viele Angehörigen von Minderheiten sind darum über die rigiden Regeln, die in ihrem Namen verhängt werden, nicht erfreut. Es scheint, als hätte sich die Entwicklung der Gesellschaft seit 1965 einmal im Kreis gedreht. Pauline Voss kritisiert: „Junge Menschen werden heute wieder in ein Korsett des korrekten Verhaltens und einer vermeintlich reinen Weltanschauung gepresst. Nicht die abweichende, sondern die angepasste Meinung wird sozial honoriert.“ Quelle: „Generation Krokodilstränen“ von Pauline Voss

Von Hans Klumbies

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