Das Über-Ich zügelt die Destruktivität
Wird das Über-Ich als einziges mögliches Gegengewicht gegen die Destruktivität gepriesen, kehrt die Destruktivität in das Subjekt zurück und gefährdet seine Existenz. Judith Butler fügt hinzu: „In der Melancholie wird die Feindseligkeit nicht externalisiert, aber hier wird das Ich zum Objekt einer potenziell mörderischen Feindseligkeit mit der Macht, das lebendige Ich, den lebenden Organismus selbst zu vernichten.“ Die Manie dagegen bringt dieses unrealistische Begehren, zu existieren und fortzudauern, ins Spiel, das sich scheinbar auf keine wahrnehmbare Realität stützen kann und keine guten Gründe für die Verankerung einer bestimmten politischen Herrschaftsform hat. Von hieraus kann sich die Manie niemals in Politik verwandeln, ohne zugleich eine gefährliche Form von Destruktion anzunehmen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.
Eine Stärkung des Gewissens kann den Todestrieb einhegen
Sigmund Freud wie Albert Einstein geht es um die Einhegung der Destruktivität und um die Frage, ob ein anderer Trieb stärker sein kann als der Todestrieb und ob eine Stärkung des Gewissens nötig ist. Judith Butler stellt fest: „Wir haben hier im Wesentlichen zwei Alternativen. Nach der einen müssen wir uns und andere zu Formen des Gewissens erziehen, die uns moralischen Abscheu gegen Gewalt einimpfen. Nach der anderen müssen wir Bande der Liebe stärken, um den Todestrieb und seine Mechanik zu überwinden.“
Gehorsam gegenüber einer tyrannischen Macht erfordert und verfestigt ein Subjekt, für das die Selbstunterwerfung zum moralischen Imperativ wird. Judith Butler ergänzt: „Sich von tyrannischer Kontrolle zu befreien, geht mit dem Risiko der Auflösung dieser Subjektform einher, insbesondere wenn sie die Gestalt des Über-Ich angenommen hat.“ Könnten Menschen schlicht das Feuer der Liebe anfachen und Liebe zur stärkeren Macht machen, dann hätten sie eine Lösung.
Man darf das eigene destruktive Potenzial nicht verleugnen
Aber Liebe ist ambivalent, sie ist die Oszillation zwischen Liebe und Hass. Judith Butler vermutet: „Es scheint hier also um einen Weg zu gehen, mit dieser Ambivalenz zu leben und zu handeln, einen Weg, der Ambivalenz nicht als Zwickmühle, sondern als innere Teilung begreift, die eine ethische Orientierung und Praxis verlangt.“ Denn nur ethisches Handeln, das um sein eigenes destruktives Potenzial weiß, kann diesem widerstehen. Wer Destruktion dagegen immer bloß als Einwirkung von außen sieht, kann die ethische Forderung nach Gewaltlosigkeit weder anerkennen noch nach ihr handeln.
Gleichwohl bleiben Gewalt und Gewaltlosigkeit sowohl soziopolitische als auch psychische Probleme und daher muss die ethische Debatte laut Judith Butler auf der Schwelle von psychischer und sozialer Welt stattfinden. Ebendieses Problem stellt sich in der Korrespondenz zwischen Sigmund Freund und Albert Einstein 1931/32, kurz vor Adolf Hitlers Aufstieg zu Macht und kurz vor beider Exil aus Österreich beziehungsweise Deutschland. Albert Einstein stellt Sigmund Freud die Frage: „Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien?“ Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler
Von Hans Klumbies