Bürger haben das Recht auf eine Privatsphäre
Alle Bürger haben das Recht, dass ihre Privatsphäre vor Eingriffen von Staat, Unternehmen und Individuen geschützt ist. Gerd Gigerenzer ergänzt: „Dazu gehört das Recht, sich zurückzuziehen, seinen persönlichen Raum zu schützen und seine Intimsphäre zu bewahren. Nicht in jeder Kultur ist die Privatsphäre ein Grundrecht, sie war es auch in der westlichen Geschichte nicht durchgängig.“ Als etwa in den 1870er Jahren die Postkarte eingeführt wurde, waren die Menschen moralisch entrüstet, weil sie glaubten, sie haben den Zweck, das Ausspionieren der privaten Korrespondenz zu erleichtern. In den 1980er Jahren gingen Hunderttausende zornige Deutsche auf die Straße und protestierten gegen eine staatliche Volkszählung, in der private Daten wie Geburtsdatum, Geschlecht, Personen- und Bildungsstand abgefragt wurden. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.
Die Erosion der Privatsphäre wird in der westlichen Welt entrüstet abgelehnt
Amerikanern hat man beigebracht, ihre Sozialversicherungsnummer sorgfältig zu bewahren, weil sonst jemand in ihrem Namen ein Bankkonto eröffnen oder einen Kredit beantragen könnte. Gerd Gigerenzer erklärt: „Die meisten Bewohner der westlichen Welt reagieren mit Entrüstung, wenn sie von der Erosion der Privatsphäre durch Sozialkredit-Systeme in anderen Ländern hören.“ Verächtlich weisen die Medien darauf hin, wie nützlich diese Systeme für Inquisition, KGB und Stasi gewesen wären.
Wie häufig wohnt jedoch diesem Abscheu ein Paradox inne. Gerd Gigerenzer erläutert: „Dieselben Leute, die über die Sozialkredit-Systeme klagen, sind bereit, ihre persönlichen Daten ohne Wimpernzucken allen möglichen Wirtschaftsunternehmen zu überlassen: was sie kaufen, wo und mit wem sie ihre Tage verbringen, welche Webseiten sie besuchen, ob sie ihre Rechnungen rechtzeitig bezahlen und wann und zu welchem Zweck sie einen Arzt aufsuchen.“
Gerd Gigerenzer erklärt das Privatsphären-Paradox
Die Diskrepanz zwischen Bekenntnissen zur Privatsphäre und tatsächlichem Verhalten hat einen Namen: Privatsphären-Paradox. Gerd Gigerenzer kennt es: „Dieselbe Person, die behauptet, sich um ihre Privatsphäre zu sorgen, ist nicht bereit, einen Cent dafür zu bezahlen. Stattdessen gibt sie ihre privaten Daten aus sozialen Medien und anderen Plattformen preis, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.“ Der Begriff „Privatsphären-Paradox“ wurde ursprünglich in einer Studie verwendet, in der US-amerikanische Studierende erklärten, sie wollten, dass ihre privaten Daten privat blieben.
Trotzdem posteten sie diese auf Facebook. Gerd Gigerenzer vermutet: „Offenbar war den Studierenden nicht klar, dass Facebook ein öffentlicher Raum ist, in dem Eltern und künftige Arbeitgeber die Einträge lesen können.“ Doch das Privatsphären-Paradox ist noch viel allgemeinerer Natur; es besteht selbst dann, wenn die Nutzer sich bewusst sind, dass sie überwacht und dass ihre Daten gesammelt werden. In Deutschland sind sich die Menschen stärker als sonst irgendwo in Europa bewusst, dass kostenlose Internetdienstleister ihre Daten registrieren und analysieren. Quelle: „Klick“ von Gerd Gigerenzer
Von Hans Klumbies