Mentale Vergewaltigungen in der Kindheit sind keine Seltenheit
Redlichkeit bedeutet, wie schon der Name sagt, dass man offen darüber reden kann. Was hingegen unredlich ist – was man nicht ohne Negativfolgen, egal für wen oder was, bereden kann –, sollte man gar nicht denken. Die Menschen tun es aber, da die Gedanken bekanntlich frei sind. Daher gilt es seelische und geistige Inhalte, egal ob fremdinduziert oder selbst kreiert, einer Prüfung auf Nachhaltigkeit zu unterziehen. Rotraud A. Perner gibt dabei zu bedenken: „Da wir Menschen meist nicht die Instinktsicherheit von Tieren besitzen und Hochsensibilität von klein auf bekämpft wird, fehlen vielfach genau die Wahrnehmungsnervenzellen, die präventiv erkennen lassen, wo Schädigung droht. Man darf jemand anderem nichts Böses unterstellen ist zum Beispiel ein Kindheitsgebot, mit dem Kinder einerseits an Kritik an Erwachsenen und andererseits an Selbstschutz gehindert werden. Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie.
Ältere Geschwister platzieren gekonnt giftige Botschaften
Schon mit der Essenserziehung in frühester Kindheit gehen oft mentale Vergewaltigungen einher: „Du isst das jetzt! Und wenn ich dir´s mit dem Kochlöffel reinstopfen muss“; die „liebevolle“ Manipulation lautet: „Da muss der Papa aber weinen …“ Rotraud A. Perner erklärt: „Im ersten Fall wird Angstmache eingesetzt, im zweiten Fall werden Schuldgefühle induziert. In beiden Fällen wird das Kind von seiner Eigenwahrnehmung abgelenkt. Aber genau diese Intuition, zu erkennen, was nicht stimmig ist, braucht es, um sich vor stofflicher wie geistiger Intoxikation zu schützen.“
In vielen Familien treten ältere Geschwister oder auch Großeltern auf, die gekonnt giftige Botschaften platzieren und sich im Triumph sonnen, dem anderen wehgetan zu haben. Sie erhöhen sich, indem sie dem anderen lustvoll seine Mängel vorhalten und dadurch glauben, etwas Besseres zu sein. Jeder Mensch hat seine persönliche Sichtweise, das ergibt sich ganz zwangsläufig aus dem Standort des Körpers im Raum. Viele Menschen glauben, sie hätten den totalen Überblick, auch wenn sie eigentlich wissen sollten, dass der an ihren Schultern endet.
Kindern wird gezielt Wissen vorenthalten
Der Einzelne braucht andere Menschen, um zu erfahren, was er in seiner Beschränktheit nicht wahrnehmen kann. Aber solche Hinweise gelassen hinzunehmen, muss auch erst einmal eingeübt werden. Das braucht wieder Modelle, die aber in den meisten Fällen fehlen. Rotraud A. Perner kritisiert: „Womit wir aber überreich versorgt werden, sind Modelle, wie man sich schminken, verkleiden, tarnen, ja sogar operativ neu gestalten lassen kann. Dazu werden uns zusätzlich noch allerlei Schutzmechanismen vorgeführt, wie man keine Kritik an sich heranlässt.“
Rotraud A. Perner gibt zwar zu, dass diese manchmal notwendig sind, wenn Kritik in einer überheblichen Sprache angebracht wird, in der sich andere erhöhen. Das führt allerdings nicht zur Wahrhaftigkeit, sondern fördert ein Giftklima von Lügen. Noch heute ist es in vielen Familien üblich, Kindern und Jugendlichen gezielt Wissen vorzuenthalten. Außerdem denkt die Mehrheit der Menschen gar nicht darüber nach, wer sie sind und ob das ihrem Idealbild von sich selbst entspricht. Und sie denken auch nicht nach, ob und wohin sie sich entwickeln wollen. Quelle: „Die reuelose Gesellschaft“ von Rotraud A. Perner
Von Hans Klumbies