Gewohnheiten veredeln oder verderben die Menschen
Gewohnheiten können als Ausdruck des Lernens, aber auch als Ausdruck der Automatisierung verstanden werden; sie können gerade durch den Effekt der Automatisierung unsichtbar werden. Henri Bergson, der in seinem philosophischen Denken die Vitalität und das Lebendige verteidigte, stand Gewohnheiten skeptisch gegenüber. Ja, er fürchtete sogar, dass alle Gewohnheit in einem stumpfen Automatismus endet. Die meisten Menschen finden es amüsant, wenn sie Tics oder Angewohnheiten von Personen beobachten, weil sie sich darüber lustig machen, wenn diese Person einer mechanischen Puppe gleicht und von Kräften gesteuert wird, die stärker sind als sie selbst. Für Clemens Sedmak ist es ein Paradox, dass die Verfestigung einer Gewohnheit zur Verflüchtigung derselben führt und sie dabei an Wahrnehmbarkeit verliert. Der österreichische Philosoph Clemens Sedmak hat unter anderem eine Professur am Londoner King´s College inne.
Die Gewohnheit stärkt die Sicherheit einer Handlung
Dass Gewohnheiten einen zumindest doppelten Effekt haben, wurde bereits im 18. Jahrhundert von Joseph Butler, einem englischen Theologen, Philosophen und Kirchenmann, beobachtet: „Wenn einen Handlung zur Gewohnheit wird, schwächt dies unsere Aufmerksamkeit, stärkt aber die Sicherheit der Handlung.“ Eine Gewohnheit stärkt und schwächt also gleichzeitig. Der französische Philosoph Félix Ravaisson stellt die Gewohnheit als Brücke zwischen Notwendigkeit und Freiheit sowie als Bindeglied zwischen Natur und Kultur dar.
In der Geschichte der Philosophie gibt es eine Tradition, die Gewohnheiten als Rückgrat eines guten Lebens ansieht. Dabei sind zur Gewohnheit gewordene Handlungsdispositionen Tugenden, die ein stabiles sittliches Leben ermöglichen. Clemens Sedmak nennt als Vertreter dieser Richtung den griechischen Philosophen Aristoteles und den Kirchenlehrer Thomas von Aquin. Auf der anderen Seite gelten Gewohnheiten auch als Erschwernis einer tiefen Erkenntnis. Roger Bacon vertritt im 13. Jahrhundert die Auffassung: „Eine lang andauernde Gewohnheit ist ein Hindernis auf dem Weg zum Wissen.“
Gewohnheiten formen und prägen die Menschen
Für Immanuel Kant sind Gewohnheiten Widerstände im Ringen um ein sittliches Leben. Für Friedrich Nitzsche sind Gewohnheiten dagegen ein
Segen, solange sie kurz sind. Aristoteles wiederum sah die Gewohnheit als lernbares Tugendmittel an. Er kennzeichnet Handlungen aufgrund von Gewohnheiten als solche, die ein Mensch schon oft ausgeführt hat. Clemens Sedmak erklärt: „Die Wiederholung steht hier sowohl für die Motivation als auch für die Ermöglichung.“ Es ist charakteristisch für den Menschen, dass er durch Gewohnheiten geformt, von Gewohnheiten geprägt wird.
Menschen können durch Gewohnheiten sowohl veredelt als auch verdorben werden. Tugenden wie Laster sind laut Clemens Sedmak gewohnheitsmäßige Haltungen, aus denen gewohnheitsmäßige Handlungen entspringen. Gewohnheiten verändern auch den Geschmack für das Leben, was auch mit der Weisheit der Lebensführung zu tun hat. Nach Aristoteles behält die Vernunft bei einem vernünftigen Menschen die Zügel in der Hand, sodass er auch gegen die Gewohnheit handeln kann, wenn es die Vernunft nahelegt. Quelle: „Jeder Tag hat viele Leben“ von Clemens Sedmak