Der Geist muss sich aussprechen
Mit Philosophie hat Sigmund Freud wenig am Hut. Er reiht sich in die positivistische Tradition des puren Wissenschaftlers ein. Gleichwohl, so stellt er fest, erfordert der Geist eine besondere Untersuchungsmethode, für welche die spekulative Physiologie Franz Joseph Galls und seiner Schüler viel zu oberflächlich ist. Ger Groot erklärt: „Psychologische Beobachtung ist weniger eine Frage des Sehens als des Zuhörens. Der Geist muss sich aussprechen, auch und vielleicht sogar von allem, wenn man seine tiefsten, unbewussten Abgründe ausloten will.“ Ein solches Ausloten ist unumgänglich, will man den Geist nicht nur verstehen, sondern auch seine Krankheit heilen können. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.
In der Psychologie geht es vor allem um Bedeutungen
Ebenso wie Le Mettrie ist Sigmund Freud in erster Linie Arzt. Und mag das Unbewusste auch aus einem unbändigen Chaos psychischer Kräfte bestehen, die das „Ich“ mit knapper Not im Zaum halten kann, so besteht dieses Chaos doch nicht nur aus Kräften. In der Psychologie geht es vor allem um Bedeutungen – und um ihnen auf die Spur zu kommen, müssen sie dazu gebracht werden, sich selbst auszudrücken. So entwickelte sich Sigmund Freuds Heilmethode zu dem, was er „a talking cure“ genannt hat.
Ger Groot weiß: „Sigmund Freud steht in der Aufklärungstradition, die nach größtmöglicher Erkenntnis und Klarheit strebt.“ René Descartes hatte erkannt, dass die Leidenschaften für das menschliche Verhalten hilfreich sind, denn sie motivieren den Menschen zum Handeln. Aber sie müssen so weit wie möglich unter die klare Führung der Vernunft gebracht werden. Auch Sigmund Freud will den Einfluss des Unbewussten möglichst weitgehend zügeln, indem er diesen der Autorität des Bewusstseins unterstellt.
Die Psychoanalyse stärkt das Ich
Das „Es“, in dem die primären Triebe hausen, und das „Über-Ich“, das die internalisierte und daher gleichermaßen unbewusste Autorität des Vaters und Gottes beherbergt, müssen durchsichtig und daher für das „Ich“ verständlich gemacht werden. So erlangt der Mensch Einsicht in seine eigenen Triebfedern und sein Verhalten und kann sein Leben selbst in die Hand nehmen. Die freudianische Psychoanalyse wird im 20. Jahrhundert im Film, vor allem im Hollywoodfilm, ungeheuer populär.
Zum Beispiel wäre der Schluss von Alfred Hitchcocks „Psycho“ ohne die Psychoanalyse undenkbar gewesen. Ger Groot stellt fest: „Einblick in die Funktion des Unbewussten zu erlangen ist zugleich eine Form, es in den Griff zu bekommen und rational zu lenken.“ Das Augenmerk der psychotherapeutischen Anstrengung der Psychoanalyse, so schreibt Sigmund Freud, besteht darin, „das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so dass es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit wie die Trockenlegung der Zuydersee.“ Quelle: „Und überall Philosophie“ von Ger Groot
Von Hans Klumbies