Menschen haben mehrere soziale Identitäten
Gruppen sind mehr als die Summe einzelner Menschen. Einerseits prägt das, was die Einzelnen als Persönlichkeiten mitbringen, die Gruppe, in der sie sich zusammenfinden. Umgekehrt prägt und verändert jede Gruppe diejenigen, die sich ihr angeschlossen haben und zugehörig fühlen. Joachim Bauer weiß: „Jeder kennt die Effekte, die implizite, nicht bewusst beabsichtigte Zugehörigkeiten auf das Verhalten des Einzelnen ausüben, aus eigener Erfahrung. Fußgänger, Rad- oder Autofahrer bilden – ohne deshalb einem Verein anzugehören – jeweils eine virtuelle Gruppe und begründen eine soziale Zugehörigkeit.“ Die Veränderung der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Verhaltens ein und desselben Menschen gegenüber den jeweils anderen Verkehrsteilnehmern, ist abhängig davon, ob man gerade als Fußgänger, Rad- oder Autofahrer unterwegs ist. Diese Tatsache ist geradezu verblüffend. Joachim Bauer ist Arzt, Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Bestsellerautor von Sachbüchern.
Innerhalb einer Gruppe ist Empathie vorhanden
Menschen, die ein Merkmal, eine gemeinsame Vorliebe oder ein gemeinsames Schicksal teilen, erwerben also – ob sie das wollen oder nicht – eine sogenannte Social Identity oder „soziale Identität“. Plötzliche Wechsel der Gruppenidentität spielen sich „nur“ im Kopf ab, können aber höchst reale, manchmal auch amüsante Folgen nach sich ziehen. Da unterschiedliche Situationen in ein und demselben Menschen eine jeweils andere soziale Identität aktivieren können, haben Menschen nicht nur eine, sondern mehrere soziale Identitäten.
Kollektive Identitäten sind, aus dem Blickwinkel der Empathie betrachtet, eine Medaille mit zwei Seiten. Sie können bei denjenigen Menschen, die sich in einer Identität vereint fühlen, Engagement und Kräfte der gegenseitigen Unterstützung und Hilfsbereitschaft freisetzen. Joachim Bauer stellt fest: „Stressoren, Schicksalsschläge und Katastrophen werden leichter ertragen, wenn Menschen sich auf der Basis einer sozialen Identität zugehörig wissen. Diese Effekte beruhen zweifellos auf einer Stärkung der innerhalb einer Gruppe vorhandenen Empathie.“
Die universalen Menschenrechte haben immer Vorrang
Die problematische Kehrseite der Medaille ist, dass Menschen, die sich einer Gemeinschaftsidentität angehörig fühlen, gegenüber Menschen, die zu einer anderen Identität zählen oder gezählt werden, weniger Empathie zeigen. Soziale Identitäten haben zur Folge, dass die in ihnen „gefangenen“ Menschen die individuellen Unterschiede zwischen einzelnen Menschen weniger oder gar nicht mehr wahrnehmen. Die individuellen Eigenschaften der Menschen werden in der Wahrnehmung sozusagen eingeebnet oder gleichgeschaltet.
Demgegenüber werden die Unterschiede zwischen den Eigenschaften von Menschen, denen verschiedene Gruppenidentitäten unterstellt werden, völlig unrealistisch vergrößert wahrgenommen. Da sie die Gefahr mit sich bringen, den einzelnen Menschen seiner Individualität und seiner individuellen Würde zu berauben, können soziale Identitäten in Widerspruch zum Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und zur Achtung der Würde des Einzelnen geraten. Die universalen Menschenrechte haben immer Vorrang. Mit einem hemdsärmelig gegen Gemeinschaftsidentitäten auftretenden Universalismus ist jedoch niemandem gedient. Quelle: „Fühlen, was die Welt fühlt“ von Joachim Bauer