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Der Neurotiker lebt unter einer unerträglichen Gewissensnot

Alexander Mitscherlich hält fest, dass eine breite Skala von Verhaltensweisen, beispielsweise Zwänge oder die Neigung zur Verdrängung, dem Willen und der Freiheit der Entscheidung des Individuums entzogen ist. Und doch vollziehen sich diese Reaktionen am betroffenen Menschen. Alexander Mitscherlich fügt hinzu: „Dies hat also die Neurose mit der Krankheit im weitesten Sinn gemein, dass sie ungerufen auftritt.“ Psychoneurosen wie psychosomatische Erkrankungen werden seiner Meinung nach dann undenkbar, wenn ein Mensch mit seiner Umwelt durch angeborene Muster des Verhaltens fest verzahnt ist. Neurosen ist laut Alexander Mitscherlich Anpassungskrankheiten, Reaktionsformen, die unter der Belastung der Forderungen aufgetreten sind, die im Zusammenleben der Menschen dem Individuum gegenüber geltend gemacht werden. Dass diese soziale Außenwelt gleichsam ins Innere des Individuums gelangen kann, dass sie dann als Sozialgewissen von innen heraus ihre Macht entfaltet, ist für Alexander Mitscherlich bereits ein nächster Schritt zur sozialen Adaption.

Menschen gelingt die Einfügung in ihre Mitwelt nur hinlänglich befriedigend

Schon Sigmund Freud hatte erkannt, dass es sich bei neurotischem Verhalten um einen Protest gegen Anpassungsforderungen an die Sittengesetze handelt, denen das Individuum offenbar n vermag. Alexander Mitscherlich schreibt: „Zwischen unserem Wollen, unserem inneren Müssen und dem, was wir nach den Gesetzen unserer Gesellschaft sollen und dürfen, vollzieht sich ein ununterbrochenes Kräftespiel.“

Dieses Spiel der Kräfte vollzieht sich eher in einer beruhigten Form an der Oberfläche des Bewusstseins als in der Tiefe einer Person. Hier gibt es keinen endgültigen Frieden. Je gewalttätiger der Zwang ist, der dabei ausgeübt wird, desto nachhaltiger wirkt der aus dem Unbewussten gespeiste und von den unbewussten Anteilen des Ichs dirigierte Widerstand.

Die gesellschaftlichen Kontrollmächte verfolgen den Neurotiker bis in sein Innerstes

Haben sich die Normen der Gesellschaft in ihren einzelnen Mitgliedern r wieder Einzelne oder Gruppen geben, die sich offen über die Sittengesetze hinwegsetzen. Alexander Mitscherlich erklärt: „Die Asozialität, die dann auftritt, ist also ein primitiverer Aufstand als der des Neurotikers.“ Kann zum Beispiel der Kriminelle seine auf rasche Triebbefriedigung drängenden Impulse nicht in Schach halten, so lebt der Neurotiker häufig unter einer unerträglichen Gewissensnot.

Die Kontrollmächte der Gesellschaft verfolgen den Neurotiker bis in sein Innerstes. Dabei wirken die dem Ich entfremdete Triebkräfte in das Verhalten hinein und durchkreuzen dessen rationale Pläne. Alexander Mitscherlich erläutert: „Verstimmung, Brutalität, Unduldsamkeit, zahllose Einstellungen und festgefügte Reaktionsmuster, unter denen ein Mensch leidet, die ihn beherrschen, denen er ausgeliefert ist, unter denen seine Umgebung ächzend mitleidet, sind dauerhafte Fernwirkungen einer nicht bewältigten Anpassung.“

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies

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