Angst ist die Erwartung zukünftiger Gefahr
Angst ist mit Furcht verwandt, aber nicht dasselbe. Die englische Version des DSM-5-TR – deutsch: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – definiert Furcht als „emotionale Reaktion auf eine reale oder vermeintliche Gefahr, während Angst die Erwartung zukünftiger Gefahr ist“. Jonathan Haidt ergänzt: „Beide können gesunde Reaktionen auf die Wirklichkeit sein, doch im Übermaß können sie zu Störungen werden.“ Angst und die mit ihr verbundenen Störungen sind offenbar die typischen psychischen Erkrankungen junger Leute von heute. Beim Blick auf die Vielzahl von Diagnosen psychischer Erkrankungen lässt sich erkennen, dass Angststörungen am stärksten zunahmen, unmittelbar gefolgt von Depressionen. Jonathan Haidt ist Professor für Sozialpsychologie an der New York University. Seine Forschungsschwerpunkte sind die psychischen Grundlagen von Moral, moralische Emotionen und Moralvorstellungen in verschiedenen Kulturen.
Furcht ist mit dem Schnellreaktionssystem verbunden
Furcht ist im ganzen Tierreich zweifellos die wichtigste Emotion fürs Überleben. Jonathan Haidt erklärt: „In einer Welt voller Prädatoren konnten die Individuen mit blitzschnellen Reaktionen am ehesten ihre Gene weitergeben. Tatsächlich sind schnelle Reaktionen auf Gefahren so wichtig, dass das Gehirn von Säugern eine Fluchtreaktion auslösen kann, noch bevor eine Information von den Augen bis in die Sehrinde am hinteren Hirnpol gelangt ist, um dort vollständig verarbeitet zu werden.“
Daher können Menschen eine Welle der Furcht verspüren oder vor einem sich nähernden Auto wegspringen, bevor ihnen richtig bewusst wird, was sie da sehen. Jonathan Haidt fügt hinzu: „Furcht ist eine Alarmglocke, die mit einem Rapid-Response-System – Schellreaktionssystem – verbunden ist. Sobald die Gefahr vorüber ist, hört die Alarmglocke auf zu läuten, es werden keine Stresshormone mehr ausgeschüttet, und das Furchtgefühl schwindet.“ Während Furcht das komplette Reaktionssystem im Moment der Gefahr aktiviert, triggert Angst Teile desselben Systems, wenn eine Gefahr lediglich möglich erscheint.
Vor allem Jugendliche fürchten einen drohenden „sozialen Tod“
Es ist gesund, Angst zu haben und wachsam zu sein, wenn man sich in einer Situation befindet, wo tatsächlich Gefahren lauern könnten. Jonathan Haidt stellt fest: „Wenn unsere Alarmglocke jedoch überempfindlich reagiert und immer wieder bei ganz gewöhnlichen Ereignissen anschlägt – auch solchen, die keine Gefahr darstellen –, hält sie uns in einem dauerhaften Zustand von Disstress. Dann wird aus einer gewöhnlichen, gesunden, temporären Angst eine Angststörung.“
Wichtig ist auch zu wissen, dass sich die Alarmglocke eines Menschen nicht allein als Reaktion auf körperliche Bedrohung entwickelt hat. Jonathan Haidt erläutert: „Unseren evolutionären Vorteil verdanken wir unserem großen Gehirn und unserer Fähigkeit, starke soziale Gruppen zu bilden; daher reagieren wir besonders empfindlich auf soziale Gefahren wie diejenige, ausgestoßen oder beschämt zu werden.“ Menschen – und vor allem Jugendliche – fürchten einen drohenden „sozialen Tod“ häufig mehr als den physischen Tod. Quelle: „Generation Angst“ von Jonathan Haidt
Von Hans Klumbies