Autonomie erfordert Mut
Die Entwicklung und der Erwerb von gelingender Autonomie ist ein Prozess, der drei entscheidende Voraussetzungen hat. Zunächst muss es einen hinreichend befähigten Akteur geben, der, wenn die Zeit reif ist, Autonomie anstrebt. Joachim Bauer erläutert: „Autonomieversuche zu unternehmen, bedeutet, bekannte Wege, auf denen man von Begleitern gelenkt und beschützt wurde, zu verlassen.“ Autonom zu werden, bedeutet also nicht nur, sich neue Möglichkeiten und Chancen zu erschließen, sondern immer auch, Wagnisse und Risiken einzugehen. Dies erfordert Mut. Den besitzt nur, wer einen ausreichend starken Selbstkern in sich fühlt. Autonomie erfordert doch nicht nur ein starkes Selbst und Mut, sondern auch Besonnenheit und die Anerkennung von Grenzen. Damit ist ihre zweite Voraussetzung genannt. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Mentoren unterstützen den Weg zur Autonomie
Ein funktionierender Selbst-Beobachter führt zu realistischen Einschätzungen. Wer sich dagegen über- oder unterschätzt, dessen Autonomieversuche werden scheitern. Bis zum Eintritt eines jungen Menschen in die Pubertät, sollte die Fähigkeit, sich selbst aus fremder Perspektive zu sehen, grundsätzlich gegeben sein. Leicht übersehen wird, dass für die Entwicklung von Autonomie eine dritte Voraussetzung gegeben sein muss. Menschen bedürfen der Inspiration, einer Anregung, einer Ermutigung sich auf den Weg in Richtung Autonomie zu machen.
Eine solche Inspiration erreicht den Menschen nicht aus höheren Sphären, sondern nimmt ihren Ausgang von anderen Menschen, meistens von Mentoren. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Personen aus der erweiterten Verwandtschaft, häufig auch um schulische oder akademische Lehrer. Manchmal kommt der Anstoß auch von Vorbildern aus der Welt der Literatur oder der Medien. Junge Menschen, die sich entscheiden, persönliche Autonomie zu wagen, bedürfen jedenfalls irgendwann einer ermutigenden Botschaft.
Manche Eltern haben keine souveräne Einstellung zur Autonomie
Eltern kommt im Prozess des Autonom Werdens heranwachsender Menschen eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Rolle, die sie dabei einnehmen, kann sehr unterschiedlich sein. Manche Eltern verhalten sich hilfreich, indem sie Adoleszente zum richtigen Zeitpunkt „freilassen“. Zugleich aber bleiben sie in „Stand-by“-Position für den Fall, dass ihr Nachwuchs doch noch Hilfestellung oder Unterstützung brauchen sollte. Nicht alle Eltern sind – aus sehr unterschiedlichen Gründen – zu einer solchen souveränen Einstellung fähig.
Häufig sind laut Joachim Bauer zwei Varianten zu beobachten, die jungen Menschen den Weg in die Autonomie schwer machen. Zum einen, dass Eltern Jugendlichen keine Zeit zur Ablösung lassen und sie proaktiv aus dem Nest werfen. Zum anderen, dass sie die Abnabelung behindern oder ganz verhindern. Die erste der beiden Varianten hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Häufig werden Adoleszente zu früh einer völlig fremden Umgebung ausgesetzt, der sie dann aber nicht gewachsen sind. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies