Identität und Erinnerung sind eng verbunden
Das Alter ist auch die Zeit der Erinnerung. „Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens“, so der Philosoph Emil Angehrn. Durch die Erinnerung wird das Vergangene durchschaubarer und verstehbarer. Barbara Schmitz ergänzt: „Uns bietet sich damit eine Möglichkeit, der vergangenen Zeit etwas entgegenzusetzen. Und die Erinnerung erlaubt uns zu verstehen, wer wir sind, wie wir die geworden sind, die wir sind.“ Die enge Verbindung zwischen Identität und Erinnerung wird im Alter besonders sichtbar. Der narrative Ansatz ist auch im Kontext von Generativität hilfreich. Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, die Weitergabe von eigenen Erfahrungen kann einen positiven Effekt auf schmerzhafte Erlebnisse des eigenen Lebens haben, kann mit ihnen versöhnen. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.
Die Diagnose Demenz ist für die meisten ein großer Schock
Das Bild vom Alter als einer individuell auszugestaltenden Lebensspanne scheint jedoch eine fatale Konsequenz nach sich zu ziehen. Barbara Schmitz erklärt: „Unter der Voraussetzung, dass das Alter auch die Zeit der neuen Potenziale und der Möglichkeit der Rückschau ist, wird Demenz stärker denn je zu einer Tragödie, denn man verliert ja gerade die Fähigkeit, etwas Neues auszuprobieren oder sich zu erinnern.“ Wie kann man bei einer Demenz noch von einem lebenswerten Leben sprechen?
Studien auf empirischer Basis zeigen, dass Menschen vor allem deswegen Angst vor Demenz haben, weil sie den Verlust von Autonomie und Selbstbestimmung fürchten, mit ihr den Verlust des Verstandes verbinden, den Verlust von Selbstkontrolle befürchten, Angst vor Abhängigkeit haben und mit der Krankheit bei fortschreitender Demenz den Verlust von Würde verbinden. Barbara Schmitz stellt fest: „Genau diese Ängste prägen das Bild von Demenz und sind damit wohl dafür verantwortlich, dass die Diagnose Demenz für die meisten ein großer Schock ist.“
Bei Demenz zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Außen- und Innenperspektive
Um zu verstehen, was Demenz ist und inwiefern ein lebenswertes Leben damit möglich ist, sind die Zeugnisse von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen unverzichtbar. Barbara Schmitz weiß: „Es zeigt sich bei Demenz ähnlich wie bei Behinderung eine Diskrepanz zwischen Außen- und Innenperspektive. Das Behinderungsparadox besagt, dass sich Außen- und Innensicht fundamental voneinander unterscheiden, wenn es um die Frage des lebenswerten Lebens geht.“
Ein Leben, das aus der Außensicht miserabel und leidvoll zu sein scheint, kann aus der Innensicht ein erfüllendes lebenswertes Leben sein. Barbara Schmitz erläutert: „Dass in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Paradox gesprochen wird, zeigt, dass es Vorurteile und Ängste gibt, die Menschen im Wege stehen, wenn es um die Beurteilung des lebenswerten Lebens für Menschen mit Behinderung geht, und dass an diesen Vorurteilen gearbeitet werden sollte.“ Quelle: „Was ist ein lebenswertes Leben?“ von Barbara Schmitz
Von Hans Klumbies