Bei der Achtsamkeit spielt Transzendenz keine Rolle
Achtsamkeit heißt die aktuelle Antwort auf Burn-out und Stress. Die neu entdeckte Innerlichkeit soll Menschen dazu bringen, sich dem Wesentlichen im Leben zuzuwenden – ist aber oft nur der Esoterik-Chic einer erschöpften Leistungselite. Achtsamkeit ist das Wort der Zeit. So wie in Burn-out alles Bedrohliche einer anstrengend gewordenen Welt mitschwingt, so atmet Achtsamkeit bereits alles, was fehlt und doch ersehnt wird. Es geht um Dinge, die lange an allen möglichen Orten eine Rolle spielten, nur nicht im Job. Um Sinnsuche und Sinnfragen, um Meditation, Spiritualität und inneres Leid. Dinge, für die traditionell die Kirchen zuständig waren, Psychotherapeuten, Freunde und vielleicht der Barmann im Hotel. Aber bestimmt nicht der Chef. Das Wort Achtsamkeit ist eine Übersetzung aus der buddhistischen Literatur: Satipatthana oder Smrti-Upasthana.
Stress ist die Zivilisations- und Berufskrankheit schlechthin
Es geht darum, bewusst die eigenen Empfindungen wahrzunehmen; das was im Körper vorgeht und sich im Bewusstsein abspielt. Im Zentrum steht die Wahrnehmung des Einatmens und Ausatmens. Die Konzentration auf Atem und Selbstwahrnehmung soll helfen, aus Denkmustern und emotionalen Verhaltensrastern auszubrechen. Man kann es Meditation nennen, wenn man mag. Buddhisten suchen einen Weg zur Erleuchtung. Die westliche Variante der Achtsamkeit ist eine radikal verweltlichte. Transzendenz spielt keine Rolle. Ziel ist es, besser mit Stress oder auch Schmerzen und Krankheiten umzugehen.
Es ist kein Zufall, dass die Achtsamkeit gerade jetzt einen Boom erlebt. Stress ist die Zivilisations- und Berufskrankheit schlechthin. Zwei Drittel der Deutschen fühlen sich manchmal oder häufig gestresst. Von 15 Fehltagen im Job pro Kopf und Jahr entfallen zweieinhalb auf psychische Erkrankungen. Die Vermischung von Arbeit und Privatleben verkürzt die Phasen der Entspannung oder zerstört sie ganz. Erstaunlich dabei ist, dass auch Unternehmen diesen eigenartig entkernten Buddhismus für sich entdecken.
Aus dem Einüben des Loslassens wird ein Kult der Selbstoptimierung
Atemübungen, Body-Scan und Yoga gehören in vielen Unternehmen inzwischen so selbstverständlich zum Gesundheitsprogramm wie Fitnesskurse und Salatbuffet. Ein Workshop bei Google über die Achtsamkeit hat zum Beispiel das Ziel aus unsensiblen Chefs mitfühlende Führungskräfte zu machen und aus gestressten Mitarbeitern kreativere, leistungsfähigere, kur: erfolgreichere Menschen. Wer das Seminar verfolgt, hat den Verdacht, dass Aufmerksamkeit auch deshalb boomt, weil sie auf eine verunsicherte Gesellschaft trifft.
Der Beobachter sieht Führungskräfte, die es für notwendig halten, ihre Gefühle einzuhegen und Mitarbeiter, die sich einerseits für defizitär halten und andererseits für überlegen, weil sie beschlossen haben, an sich zu arbeiten. Aus dem Einüben des Loslassens wird so ein Kult der Selbstoptimierung. In einer Welt, die sich durch eine große Unübersichtlichkeit auszeichnet, scheint auch Kontrolle wichtig zu sein. Digital, ökonomisch und politisch. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt das sogenannte „Steigerungsspiel“ das dominierende Gefühl der Gegenwart: „Damit wir im nächsten Jahr noch denselben Platz in der Welt haben, müssen wir ständig zulegen.“ Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies