Die Liebe gebiert die Welt
Alain Badiou schreibt: „Der Hauptfeind der Liebe, derjenige, den ich besiegen muss, ist nicht der andere, sondern das bin ich.“ Dabei handelt es sich um das „Ich“, das die Identität gegen den Unterschied will. Es will seine Welt gegen die Welt durchsetzen, die im Prisma des Unterschieds neu gefiltert und zusammengesetzt wird. Charles Pépin erklärt: „Wenn die Begegnung mit dir meinen Blick auf die Welt nicht verändert hat, ich derart an meinem Ich hänge, dass ich die Welt genauso sehe wie vorher, dann bin ich dir nicht wirklich begegnet.“ Eine Person hat mit einer anderen zusammengewohnt, vielleicht jahrelang, aber ohne die Erfahrung der Andersheit des Partners zu machen. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Kraft der Liebe wird in der Dauer sichtbar
Die Liebe, so Alain Badiou weiter, „ist eine existenzielle Behauptung: die Konstruktion einer Welt unter einem Gesichtspunkt, der abseits meines bloßen Selbsterhaltungstriebes oder meines wohlverstandenen Interesses liegt.“ Alain Badiou fährt fort: „Wenn ich dir begegne, entdecke ich, dass ich die Welt anders als nur durch ein einzelnes Bewusstsein erfahren kann. Sodass diese Welt sich ereignet und geboren wird, anstatt nur das zu sein, was meinen persönlichen Blick erfüllt. Die Liebe ist immer die Möglichkeit, bei der Geburt der Welt dabei zu sein.
Alain Badiou erwähnt die Welt, die der Andere sieht, wahrnimmt, empfängt. Das Gegenüber ist bei ihrer Geburt dabei, sobald sie, zumindest teilweise, Zugang findet zum Gesichtspunkt des Anderen. Vielleicht weckt dieser Gesichtspunkt sogar das eigene Bewusstsein der Existenz der Welt. Derjenigen, die beide bewohnen, jenseits ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen. Wenn die Liebe eine „Konstruktion“ ist, dann wird die ganze Kraft der Begegnung in der Dauer sichtbar.
Auch der Andere ist ein Zentrum des Reichtums der Welt
Charles Pépin erläutert: „Nicht in der Initialzündung der Liebe liegt das eigentlich Erstaunliche, sondern in der Zeit, die notwendig ist, um den Unterschied es Anderen umfänglich zu erkunden.“ Man sollte es jedenfalls versuchen, um mit Erstaunen zu entdecken, dass auch der Andere ein Zentrum, ein Subjekt und ein Beobachtungsposten des Reichtums der Welt ist. Das heißt, die Begegnung mit dem Anderen findet nicht einfach nur zum Zeitpunkt „t“ statt.
Deshalb kann man eine Liebesbeziehung denken, die nicht abflaut, sondern sich im Gegenteil entfaltet und sich in der Erkundung der Andersheit des geliebten Menschen verstärkt. Die Begegnung wird zur Einladung, sie fortzuführen. Charles Pépin stellt fest: „Je näher ich dem Geheimnis des Anderen komme, desto mehr entzieht es sich.“ Alles, was man nach und nach vom Anderen begreift, verstärkt die Neugier auf das, was sich einem entzieht. Es ist, als würde das Geheimnis gleichzeitig schwinden und sich verdichten. Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin
Von Hans Klumbies