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Die geringste Ungleichheit verletzt das Auge

Max Scheler sieht in der demokratischen Ordnung einen Ort, der strukturell mehr zum Ressentiment neigt. Cynthia Fleury erklärt: „Alexis de Tocqueville hatte dies zu seiner Zeit bereits gespürt, als er auf ein Übel hinwies, das den Menschen befällt, den Egalitarismus, und auf die Tatsache, dass er für die Gleichheit umso sensibler wird, je klarer sich die Egalisierung der Bedingungen abzeichnet.“ Dies ist ein logisches, aber schwer zu kanalisierendes Phänomen. Die geringste Ungleichheit verletzt das Auge, hatte er gesagt, und die Unersättlichkeit des Individuums in Bezug auf den Egalitarismus ist verheerend. Schon damals sprach er vom Übel der Melancholie inmitten des Überflusses. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury ist unter anderem Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris.

Ressentiment ist das Ergebnis einer misslungenen Demokratie

Ist die Perversion unausweichlich? Cynthia Fleury glaubt das nicht. Es ist für sie eine Frage der Erziehung. Sie spielt sich laut Michel Foucault auf der Ebene der „Regierung des Selbst“ ab, dem einzigen Horizont, der eine „Regierung der anderen“ ermöglicht, die diesen Namen verdient und die egalitäre Herausforderung der Demokratie respektiert. Für Max Scheler ist das Ressentiment natürlich nicht das Ergebnis einer perfekten Demokratie, sondern einer misslungenen Demokratie.

Diese erweist sich letztlich immer als die Realität der Demokratie, auch wenn man sie keineswegs als solche gelten lassen darf. In einer nicht nur politischen, sondern auch sozialen, auf Besitzgleichheit hin tendierenden Demokratie wäre zum mindesten das soziale Ressentiment gering. Cynthia Fleury erläutert: „Das Ressentiment entsteht durch eine Diskrepanz zwischen den anerkannten und gleichen politischen Rechten und der Realität konkreter Ungleichheiten. Diese Koexistenz des formalen Rechts mit dem Fehlen des konkreten Rechts erzeugt das kollektive Ressentiment.“

Bei ständiger Demütigung stellt sich das Gefühl der Fatalität ein

Doch im Gegensatz zu Max Scheler glaubt Cynthia Fleury, dass das Ressentiment mehr strukturell im Menschen angelegt ist. Denn in einer egalitären wirtschaftlichen Situation verlegt es sich auf die symbolische Anerkennung und fordert immer mehr Gleichheit oder projiziert seine Abneigung auf den anderen. Dies verweist durchaus auf persönliche und nicht analysierte Faktoren. Das bedeutet jedoch nicht, dass unsere Gesellschaften durch das Wiederaufleben der Ungleichheit nicht das Potenzial für Ressentiments produzieren.

Wenn man sich beleidigt, gedemütigt und machtlos fühlt, führt dies zunächst zu einem Rückzug auf sich selbst, ja zu einer Art Zustimmung, die auf eine Art Knock-out folgt; dann richtet sich das Subjekt glücklicherweise wieder auf. Cynthia Fleury fügt hinzu: „Wenn die Sache jedoch andauert, sich wiederholt und das Gefühl vermittelt, dass sie von einer wachsenden Zahl von Individuen, zum Beispiel einer Elite getragen wird, wird die Beleidigung zur Welt, einer Welt der Einsperrung, die das Subjekt zu ihrem Gefangenen macht, und es stellt sich das Gefühl der Fatalität ein.“ Quelle: „Hier liegt Bitterkeit begraben“ von Cynthia Fleury

Von Hans Klumbies

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