Das Gedächtnis ist kein Datenspeicher
Menschliches Erleben und Erinnern sind in hohem Maß subjektiv bestimmt und in der Regel nimmt man dies nicht wahr. Denn das Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Datenspeicher, in dem man unverändert reproduzierbare Inhalte abspeichern kann. Thomas Fischer fügt hinzu: „Merken und Erinnern sind vielmehr stark mit Emotionen, einer Gesamtheit von sensorischen, unbewussten und reflektierten Prozessen verbunden.“ Die Speicher der Erinnerung sind Teil des Gesamtkörpers eines Menschen. Erinnerung ist nicht das Öffnen einer Datei, sondern die Neukonstruktion einer Gesamtsituation, die ihrerseits wiederum ein Gefühls- und Reflexionsprozess ist. Dieser wird verarbeitet und hat seinerseits Einfluss auf das Ergebnis des Erinnerns. So entsteht jedes Mal ein etwas anderes Bild der Vergangenheit. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Es entstehen immer mehr „parallele“ Wahrheiten
Durch gezielte oder unbeabsichtigte Einflussnahmen ist es ohne weiteres möglich, in Personen lebhafte Erinnerungen hervorzurufen, die tatsächlich niemals stattgefunden haben. Auch solche scheinbaren Erinnerungen akzeptieren die betroffenen Personen schließlich als Wahrheit. Eine in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende sozialpsychologische Erscheinung ist das Entstehen von „parallelen“ Wahrheiten. Diese umfassen nicht allein Wertungen und Beurteilungen, sondern beziehen sich explizit auf Tatsachen. Dies sind zum einen die erstaunlich verbreiteten Verschwörungstheorien, die beliebige Tatsachen zu geschlossenen, wahnhaft erscheinenden Deutungssystemen integrieren.
Zum anderen sind es die politisch, ideologisch oder religiös motivierten Weigerungen, Tatsachen außerhalb des eigenen Deutungskontexts überhaupt oder als potenziell wahr zur Kenntnis zu nehmen. Die Begriffe „Fake News“ und „Alternative Facts“ stammen nicht zufällig aus dem Bereich der amerikanischen Kommunikation. In dieser hat eine Kombination von Meinungen mit Tatsachen du Spaltung des Wirklichkeitsempfindens ein früher kaum vorstellbares Ausmaß erreicht.
In Europa herrscht eine Kultur der Rationalität
Die Menschen in Europa leben seit rund fünfhundert Jahren vorwiegend in einer Kultur der Rationalität. Die Vernunft im Sinn einer Systematisierung von Erkenntnissen ist dabei das Prinzip des Denkens und das Garantieversprechen einer Definition der Wahrheit. Es wird den Menschen heute nicht als abstraktes Prinzip zugeschrieben, sondern als individuelle Eigenschaft und Pflicht: Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung, Selbstbestimmung. Im Zentrum des Denkens der Moderne steht der Mensch als Ich, Selbst, Subjekt.
Thomas Fischer stellt fest: „Es ist in der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts jedenfalls nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg bestreitbar, dass es bei der Beurteilung von abweichendem Verhalten und individuelle Schuld und Verantwortung geht. Und dass dies eine wahre, das heißt rational nachvollziehbare, legitime und allgemein akzeptable Zuweisung von Schuldvoraussetzungen erfordert.“ Es reicht zur Bestrafung wegen Mordes also nicht aus, dass Personen durch Eingebung, Traum oder kraft Tradition überzeugt sind, ein Beschuldigter habe dafür gesorgt, dass eine andere Person starb. Die Wahrheit muss nach Maßstäben festgestellt werden, die rationalen Sinnzusammenhängen folgen. Quelle: „Über das Strafen von Thomas Fischer
Von Hans Klumbies