Lust und Realität passen nicht zusammen
Von Sigmund Freud stammt der Gedanke, dass das Lustprinzip und das Realitätsprinzip sich feindlich gegenüberstehen. Ungehindertes Schwelgen in den biologischen und psychologischen menschlichen Bedürfnissen entspricht dem Lustprinzip. Es beeinträchtigt die Freiheit der anderen und muss daher durch Regeln und Disziplin, also dem Realitätsprinzip eingedämmt werden. Stuart Jeffries erläutert: „Folgt man Herbert Marcuse, dann ist in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften etwas geschehen, das so kontraintuitiv wie die Quadratur des Kreises und so unwahrscheinlich wie die Existenz des Steins der Weisen ist: Das Lustprinzip hat das Realitätsprinzip absorbiert.“ Der diabolische Geist, den Herbert Marcuse in der eindimensionalen Gesellschaft am Werk sah, war so beschaffen, dass Lust zu einem Werkzeug der Unterdrückung wurde. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.
Die zur Schau gestellte Sexualität prägt die eindimensionale Gesellschaft
In der eindimensionalen Gesellschaft sind Sex und zur Schau gestellte Sexualität überall anzutreffen. Infolgedessen verfällt der eindimensionale Mann auf den Gedanken, er sei in sexueller Hinsicht ein Revolutionär, der über Hemmungen und Ausflüchte aus der Vergangenheit triumphiert hat. Stuart Jeffries ergänzt: „Ein Faktor, der diese zur Schau gestellte Sexualität möglich machte, war nach Herbert Marcuse der Rückgang schwerer körperlicher Arbeit.“
Herbert Marcuse schreibt: „Ohne dass er aufhört, ein Arbeitsinstrument zu sein, wird es dem Körper gestattet, seine sexuellen Züge in der alltäglichen Arbeitswelt und in den Arbeitsbeziehungen zur Schau zu stellen. Darin besteht eine der einzigartigen Leistungen der Industriegesellschaft – ermöglicht durch die Abnahme von schmutziger und schwerer körperlicher Arbeit.“ Stuart Jeffries gewinnt den Eindruck, die Deindustrialisierung und die entsublimierte Sexualität wären zu einem mürrischen, lüsternen Lambada über die Auslegeware am Arbeitsplatz vermischt worden. Der Arbeiter hat die Grubenhelm und die Sicherheitsschuhe gegen Minirock und exzentrische Stiefel eingetauscht.
Das Persönliche ist das Politische
Herbert Marcuse zog nicht die Möglichkeit sexueller Zurschaustellung als radikaler Aktion gegen eine solche Kommerzialisierung und Verdinglichung von weiblichen Körpern in Betracht. Und es ist unwahrscheinlich, dass er den Protest von Frauen gegen den eindimensionalen Mann und seine verdinglichende Sexualität erkannt hätte. Stuart Jeffries stellt fest: „Immerhin – wenn wir eines aus den 1960er Jahren gelernt haben, dann, dass das Persönliche das Politische ist.“
Sublimierung, also die Umlenkung sexueller Energie auf einen sozialeren, moralischeren oder ästhetischeren Zweck, ist alles andere als schlecht. Stuart Jeffries weiß: „Für Herbert Marcuse hat Sublimierung im Gegenteil utopische Potenz.“ Er dachte dabei unter anderem an den Künstler, der, Sigmund Freud zufolge, seine sexuellen Impulse in der Schaffung von Kunstwerken sublimiert. Sexuelle Energie zu sublimieren, ist etwas anderes als sie zu unterdrücken, aber beide Umgangsformen damit seien, so Freuds Vorstellung, Faktoren, ja sogar notwendige Faktoren der Kultur. Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries
Von Hans Klumbies