Das Über-Ich nimmt an der Figur des Vaters Maß
Das Über-Ich steuert die moralische Bestimmung des Individuums nicht von außen, sondern entspringt einer subjektiven Idealisierung mit ambivalenten Bezügen. Prägend steht dabei im Hintergrund die Figur des Vaters, an dem das Über-Ich Maß nimmt. Peter-André Alt erläutert: „Im Laufe des Erwachsenwerdens löst es sich von dieser konkreten Bindung, beim Jungen durch die Überwindung des Ödipus-Komplexes, beim Mädchen durch die Suche nach einer neuen männlichen Bezugsperson, auf die sich das Liebesbegehren richtet.“ Auch das Über-Ich bleibt im Bann libidinöser Kräfte, weil die Idealisierungsarbeit, der es seine Existenz verdankt, das Resultat einer sexuell aufgeladenen Fixierung auf den Vater ist. Es wäre daher unzutreffend, dem Über-Ich Eigenständigkeit und Freiheit zuzusprechen. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Das Ich unterwirft sich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs
Das Über-Ich steht im Bann einer biografischen Prägung, die aus der Kindheit stammt. Sigmund Freud schreibt: „Es ist das Denkmal der einstigen Schwäche und Abhängigkeit des Ichs und setzt seine Herrschaft auch über das reife Ich fort. Wie das Kind unter dem Zwange stand, seinen Eltern zu gehorchen, unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs.“ Sigmund Freud fährt fort: „In allen diesen Verhältnissen erweist das Über-Ich seine Unabhängigkeit vom bewussten Ich und seine innigen Beziehungen zum unbewussten Es.“
Was als moralisches Urteil erscheint, verbindet sich bei genauerem Hinsehen in einer geraden Herkunftslinie mit dem Vaterbild und den Schwierigkeiten seiner Überwindung. Der kategorische Imperativ Immanuel Kants Formulierte Sigmund Freud, „ist so der direkte Erbe des Ödipuskomplexes.“ Das sittliche System betrachtete er als schlecht funktioniertes Provisorium, wie er 1918 schrieb: „Ich zerbreche mir nicht viel den Kopf über Gut und Böse, aber ich habe an den Menschen durchschnittlich wenig „Gutes“ gefunden.“
Bei Neurotikern stellt das Über-Ich eine Quelle für Schuldgefühle dar
Sigmund Freud fährt fort: „Die meisten sind nach meiner Erfahrung Gesindel, ob sie sich laut zu dieser, jener oder keiner ethische Lehre bekennen.“ Gerade bei Neurotikern stellt das Über-Ich eine Quelle für Schuldgefühle dar, indem es den seelischen Apparat blockiert und den Trieb massiv, aber erfolglos verdrängt. Anders als bei Gesunden fehlt die Balance zwischen unbewussten Auslöser und unbewussten Agieren des Über-Ich, weil das Es die nicht vollständig unterdrücke Triebregungen immer wieder an die Oberfläche spült.
Vom Arzt verlang der Kranke zumeist die Bestätigung, dass seine Schuldgefühle eingebildet und unberechtigt seien. Sigmund Freud schreibt: „Das hysterische Ich erwehrt sich der peinlichen Wahrnehmung, die ihm von Seiten der Kritik seines Über-Ichs droht, in derselben Weise, wie es sich sonst einer unerträglichen Objektbesetzung zu erwehren pflegt, durch eine Akt der Verdrängung.“ Das Über-Ich bleibt eine Instanz, die nur unter den Bedingungen einer gewissen äußeren Sicherheit besteht. Quelle: „Sigmund Freud“ von Peter-André Alt
Von Hans Klumbies