Der Mensch erlebt Vertrautheit durch Bindung
Als „animale sociale“, als soziales Tier, ist dem Menschen von Geburt an das Bedürfnis nach Beziehung eingeschrieben. Christian Schüle erklärt: „Die sogenannte „attachment“-Theorie der Entwicklungspsychologie macht in der Bindung des Kindes an die Mutter die basale Identitätserfahrung eines Menschen aus – Sicherheit und Kontinuität des Ur-Vertrauens in den guten Gang der Dinge.“ Gemäß der Bindungstheorie des Psychoanalytikers und Arztes John Bowlby wird in der frühkindlichen Sozialisation mit dem Selbstbild ein spezifischer Bindungsstil generiert, der auch das spezifische Glaubensmuster prägt. Kinder übernehmen die Bewertungsmuster der Eltern. Jeder Mensch strebt nach einem positiven Selbstbild. Kein System funktioniert ohne Vertrauen. Das System ist eine Art objektive Wahrheit, und keine Wahrheit funktioniert ohne Glauben an ihre Tatsächlichkeit. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Vertrauen verschafft den Menschen Sicherheit
Vertrauen in die Realität gehört zur Grundausstattung des Individuums. Christian Schüle stellt fest: „Ich als pro-soziales Wesen akzeptiere, wer und was anderes da ist, vertraue auf meine Sinne und stelle das Wahrgenommene nicht andauernd infrage, weil ich sonst nicht dauerhaft das Leben konstruktiv gestalten kann.“ Um in einer hochdiffernzierten, hypersensiblen, auf zerbrechlichen Übereinkünften basierenden Umwelt zu überleben, muss der Mensch sich von vornherein auf den guten Gang der Dinge verlassen.
Ein Mensch muss mit der Stabilität seiner Umwelt rechnen können. Vertrauen in eine prästabilierte Harmonie, in die es eingewoben ist, verschafft dem Individuum Sicherheit. Christian Schüle erläutert: „Im Vertrauen versichert er sich seiner selbst, was Evolutionspsychologie zufolge im frühen, also präreflexiven Alter geschieht, den ersten Lebensjahren. Bis zum Alter von zehn wird das erworbene Vertrauensmuster bestätigt, im Gehirn bilden sich emotionale Strukturen für Bilder.“ Hört das Vertraute zu existieren auf, wird dem Vertrauen der Boden entzogen.
Seine Heimat verleiht dem Menschen das Vertrauen in die Welt
Die Bindung des Menschen an eine Heimat ist unumgänglich. Oder liebevoller gesagt: Heimat legt den Bindungsstil fest. Heimat ist ein religiöses System. Aus dem rückbezüglichen Ur-Vertrauen der Einbettung in die eigene Geschichte entsteht die Tradition der Familialität: der Vertrautheit. Die Familie ist der Verbund des Vertrauten und als vertraut Erfahrenen, auch wenn die Erfahrungen schlecht und grausam gewesen sind. Weil der Mensch nicht ohne Vertrauen leben kann, bindet er sich an Orte und Menschen, die ihm vertraut sind.
Vertrautheit ermöglicht Vertrauen, vertrauen beglaubigt Vertrautheit. Die Familie stellt die höchste Form der Vertrautheit dar. Selbst wenn sie irgendwann zerrüttet ist, herrscht in der Familie ja doch erst einmal Vertrauen vor, und also bildet die Familie jenes Ur-Vertrauen aus, dass auch die Heimat für sich reklamiert. In der Fortsetzung der Familie durch Gleichsetzung mit der Heimat wird Letztere im Laufe des Lebens der Raum zum Rückbezug. Christian Schüle weiß: „Seine Heimat verleiht dem Menschen das Vertrauen in die Welt, weil die Heimat nichts von ihm will und keine Rechtfertigung verlangt.“ Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle
Von Hans Klumbies