Der Mensch ist ein Werk von unbestimmter Gestalt
Wie findet der Mensch zu Freiheit und Würde, zu Individualität und Identität? Joachim Bauer antwortet wie folgt: „Dass wir den Rahmen verlassen dürfen, der uns durch unsere Herkunft gesetzt war, verdanken wir der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung.“ Der florentinische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola betrachtete den Menschen als „ein Werk von unbestimmter Gestalt“, dem das Recht und die Würde zusteht, selbst zu wählen, wie er sich verwirklichen will. Das war Ende des 15. Jahrhunderts eine Provokation und brachte ihm bei der mächtigen katholischen Kirche erheblichen Ärger ein. Die kostbare Freiheit, sich individuell entwickeln zu dürfen, ist ein Kind Europas. Ihre Vorgeschichte reicht ins klassische Altertum, nach Athen zurück. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Freiheit kann auch wieder verloren gehen
Dem modernen Menschen wurde die Freiheit nicht auf dem Tablett serviert. Er musste sich den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erkämpfen. Karl Marx machte seinen Zeitgenossen bewusst, dass menschliche Freiheit und Würde immer auch ökonomische Voraussetzungen haben. Aber der Mensch hat inzwischen erkannt, dass Freiheit auch ökologische Grundlagen hat. Immer mehr Menschen gelangen heutzutage zu der Erkenntnis, dass einmal erkämpfte menschliche Freiheiten auch wieder verloren gehen können.
In vielen Ländern dieser Erde hat der moderne Mensch die Möglichkeit, einen eigenen Lebensweg zu suchen und zu gehen. Das ist eine kostbare, historisch betrachtet aber noch relativ junge Errungenschaft. Grundlage des Selbst ist, was jedem Kind an Eindrücken und Botschaften mitgegeben wird, was ihm widerfährt. Der Säugling empfindet Resonanzen, in denen implizite Botschaften verpackt sind. Sie gegen seinem Körper und seinem sich langsam herausbildenden Selbst Auskunft darüber, wer zu ihm spricht, als was er gesehen wird und welcher Art die Welt ist, in die er hineingeboren wurde.
Das Kind reagiert bereits im Mutterleib
Joachim Bauer erläutert: „Der Körper des Säuglings und dessen genetische Grundlagen stellen zu seinem sich entwickelnden Selbst- und Weltverständnis kein Wissen zur Verfügung.“ Der Körper des Säuglings ist vielmehr ein Gefäß, das die an ihn gerichteten Botschaften aufnimmt und sich durch sie verändert. Dieses Gefäß, insbesondere das Gehirn, ist plastisch, also formbar. Zur Internalisierung impliziter Botschaften kommt die Aufnahme expliziter Aussagen dazu.
Beide konstituieren den Kern des Selbst. Dem Selbst als etwas dem Menschen widerfahrendes, steht ein zweiter Aspekt des Selbst gegenüber. Nämlich seine Lebendigkeit und Fähigkeit, zu agieren und kreativ zu sein. Bereits im Mutterleib ist das Kind nicht nur passiver Adressat, sondern reagiert. Nach der Geburt artikuliert der Säugling seine Empfindungen. Diese variieren zwischen Lust oder Wonne und Unlust oder Schmerz. Insofern ist er – vertreten durch seinen erlebenden Körper – auch hier schon Akteur. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies