Die Aggressionshemmung kann versagen
Zweifellos würde es in der Welt viel brutaler und gehässiger zugehen, wenn nicht die meisten Menschen recht gut mit Aggressionshemmungen ausgestattet wären. Aber ebenso klar ist, dass sie bei einigen Menschen nur schwach entwickelt. Selbst gut ausgeprägte Hemmungen können in bestimmten Situationen versagen. Hierfür kann es laut Hans-Peter Nolting verschiedene Gründe geben: „Ein in einer einzelnen Person liegender Grund ist die mangelnde Fähigkeit zur Selbstkontrolle, sei es etwa aufgrund einer Hirnschädigung, sei es, weil diese Fähigkeit in der Sozialisation nicht genügend gefördert wurde.“ In solchen Fällen handelt es sich um hemmungslose Menschen. Denn es gelingt ihnen nicht, sich zu einem unaggressiven Verhalten zu zwingen. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.
Das moralische Verbot der Aggression gilt nicht absolut
Allerdings kann auch ohne eine solche Schwäche die Selbstkontrolle in kritischen Situationen versagen. Etwa unter akutem Alkoholeinfluss oder aufgrund hoher emotionaler Erregung. Faktoren wie diese werden bekanntlich auch von Gerichten gewürdigt, wenn es etwa darum geht, ob ein Gewaltverbrechen als Mord oder Totschlag zu werden ist. Selbst die besonders wichtigen moralischen Hemmungen sind nicht unerschütterlich. Sondern sie können durch inhaltliche Rechtfertigungen außer Kraft gesetzt werden, sogar in schwerwiegenden Fällen.
Hans-Peter Nolting erklärt: „Denn für kaum einen Menschen gilt das moralische Aggressionsverbot ganz streng und absolut. Vielmehr lassen die persönliche Wertordnung sowie die jeweilige Kultur so manche Ausnahme zu.“ Eine nahezu universelle Ausnahme lautet: Verteidigung. Man darf zwar nicht als Erster angreifen, man darf sich aber schützen. Das Problem ist nur, dass Begriffe wie Verteidigung, Abwehr oder Schutz sehr dehnbar sind. Wohl jeder aber akzeptiert zumindest Notwehr oder Nothilfe bei Gefahr für Leib und Leben.
Manche Menschen begehen Böses aus ganz banalen Gründen
Übrigen werden auch Vergeltungsakte häufig als Verteidigung ausgegeben, und manche Menschen oder Subkulturen sehen die Vergeltung ohnehin als eine legitime Ausnahme an. Wenn ein Mensch aufgrund solcher Rechtfertigungen sein Handeln nicht mehr als verwerflich ansieht, verlieren seine moralischen Einstellungen an Gewicht. Und falls er dennoch Hemmungen verspürt, werden sie sich möglicherweise nicht durchsetzen. Sofern er die Verantwortung für sein Tun nicht bei sich selbst, sondern bei anderen sieht. Das entlastet ihn moralisch und vermindert zugleich die Furcht vor negativen.
Die verschobene Verantwortung spielt vor allem eine bedeutsame Rolle, wenn man im Auftrag einer höhergestellten Person oder auf Druck einer Gruppe Dinge tut, die der eigenen Einstellung eigentlich zuwiderlaufen. Der betroffene Mensch mag zwar noch einen inneren Konflikt erleben, führt die aggressive Handlung dennoch aus. Das Banale am Bösen liegt für Hans-Peter Nolting darin, dass ein Mensch das Böse aus ganz banalen Beweggründen begeht. Dabei geht es um die Motive seines Handelns, um die Tatmotive. Quelle: „Psychologie der Aggression“ von Hans-Peter Nolting
Von Hans Klumbies