Die Bedeutung des Wortes „Charakter“ ändert sich
Die Leistungsgesellschaft setzt gewaltige Energien frei und klassifiziert Menschen nach ihrem Leistungsvermögen. Aber sie wirkt sich auch in subtiler Weise auf den Charakter, die Kultur und die Werte aus. David Brooks erläutert: „Ein stark konkurrenzorientiertes System auf Leistungsbasis ermuntert Menschen dazu, intensiv über sich selbst und die Kultivierung ihrer Fähigkeiten nachzudenken.“ Arbeit wird zum definierenden Merkmal eines Lebens. Insbesondere wenn man nach und nach aufgrund einer bestimmten Arbeit Einladungen zu exklusiven gesellschaftlichen Ereignissen erhält. Auf eine kaum merkliche, sanfte, aber alles durchdringende Weise flößt dieses System Menschen ein gewisses Nutzenkalkül ein. Das Leistungsdenken fördert auf subtile Weise ein instrumentelles Ethos, bei dem jedes gesellschaftliche Ereignis und jede Bekanntschaft zu einer Gelegenheit wird, seinen Status und seine beruflichen Aufstiegschancen zu verbessern. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.
In der Leistungsgesellschaft sollen sich die Menschen selbst vermarkten
Selbst wenn es darum geht, wie Menschen ihre Freizeit verbringen, denken sie in ökonomischen Kategorien und sprechen von Opportunitätskosten, Skalierbarkeit, Humankapital und Kosten-Nutzen-Analyse. Die Bedeutung des Wortes „Charakter“ ändert sich. David Brooks erklärt: „Es wird weniger zur Beschreibung von Persönlichkeitszügen wie Selbstlosigkeit, Großzügigkeit, Aufopferungsbereitschaft und anderer Eigenschaften, die dem weltlichen Erfolg eher abträglich sind, verwendet.
Stattdessen werden damit heute Persönlichkeitszüge wie Selbstkontrolle, Charakterstärke, Resilienz und Beharrlichkeit beschrieben. Also Eigenschaften, die eher gesellschaftlichem Erfolg förderlich sind. Das Leistungssystem will, dass Menschen viel Aufhebens um sich selbst machen. Dass sie sich selbst anpreisen, selbstsicher auftreten, überzeugt sein, dass ihnen viel zusteht, und dass sie das, was ihnen zusteht, auch bekommen. Die Leistungsgesellschaft will, dass Menschen sich durchsetzen und sich selbst vermarkten.
In der Liebe haben die Kosten die Leidenschaft ersetzt
Die Leistungsgesellschaft will, dass Menschen ihre Leistungen zur Schau stellen und aufbauschen. Die Leistungsmaschine belohnt Menschen, wenn sie ihre Überlegenheit demonstrieren können – wenn man durch kleine Gesten, Gesprächsformen und Kleidungsstile nachweisen kann, dass man ein bisschen intelligenter, hipper, versierter, niveauvoller, berühmter, vernetzter und trendbewusster ist, als die Leute um einen herum. Die Leistungsgesellschaft fördert Verengung und ermuntert Menschen dazu, zu einem gewieften Tier zu werden, das seine inneren menschlichen Qualitäten durchrationalisiert hat, damit sein Aufstieg glatt verläuft.
Das gewiefte Tier regelt sorgfältig seine Zeit und seine emotionalen Bindungen. Dinge, die ehedem nicht rein zweckrational gestaltet wurden, wie etwa das Studium, das Kennenlernen eines potentiellen Partners oder die Bindung an einen Arbeitgeber, werden heute mit einer eher utilitaristischen Geisteshaltung angegangen. Es ist einfach nicht genug Zeit vorhanden, um sich von Liebe und Leidenschaft mitreißen zu lassen. Ein großer Einsatz für einen Auftrag oder eine Liebe ist mit Kosten verbunden. Quelle: „Charakter“ von David Brooks
Von Hans Klumbies