Die befreite Sexualität machte glücklicher
Die Befreiung der Sexualität in den freizügigen 1960er Jahren sei, so Herbert Marcuse, ein Kontrollmechanismus gewesen, der Menschen glücklicher, sogar sexuell erfüllter machte. Stuart Jeffries erklärt: „Eine Voraussetzung dieses größeren Glücks und der sexuellen Erfüllung ist allerdings größere Angepasstheit.“ Das erste Opfer dieser zunehmenden Konformität und das unglückliche Bewusstsein, insbesondere der Künstler, der aufgrund seines Unglücks und seines Unbehagens in seinem Werk die repressive Gewalt der bestehenden Welt der Befriedigung erhellt. Für Herbert Marcuse gab es in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften nach wie vor Repression, allerdings zunehmend keine Sublimierung mehr: Erste verlangt von den Menschen, dass sie sich der herrschenden Ordnung beugen; letztere hingegen erfordert ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Verstehen. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.
Es gibt heute keine Sublimierung mehr
Für Herbert Marcuse wurde Sublimierung in der Form vollendeter Kunst zu jenem wertvollen, wenn auch paradoxen Phänomen – einer Macht, die fähig war, Unterdrückung zu besiegen, indem sie sich beugte. Stuart Jeffries erläutert: „Allerdings gibt es heute keine Sublimierung mehr. Um das zu verdeutlichen, vergleicht Marcuse, wie Künstler der Nachkriegsära und deren Vorgänger Sex darstellten und dramatisierten.“ In Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ oder Leo Tolstois „Anna Karenina“ wird sexuelle Lust eher sublimiert als erfüllt.
Vielleicht ist das beste Beispiel dieser sublimierten Sexualität ein Werk, das Herbert Marcuse nicht erwähnt: Richard Wagners „Tristan und Isolde“, in welchem Sex und Tod, Eros und Thanatos in ewiger Umarmung umschlugen sind. Stuart Jeffries ergänzt: „In solcherart sublimierten Kunstwerken ist nach Marcuse Erfüllung jenseits von Gut und Böse, jenseits gesellschaftlicher Moral und bleibt so jenseits der Reichweite des bestehenden Realitätsprinzips.“
In der Industriegesellschaft ist die Sexualität schamlos
Und Herbert Marcuse führt als Vergleichspunkt die Art und Weise an, wie Sexualität in Werken der fortgeschrittenen Industriegesellschaft dargestellt wird. Zum Beispiel ist die in Vladimir Nabokovs „Lolita“ dargestellte Sexualität in den Augen Herbert Marcuses unendlich realistischer, gewagter, hemmungsloser als in der klassischen oder romantischen Literatur. Stuart Jeffries fügt hinzu: „Sie ist entsublimiert, unablässig präsent in ihrer banalen Ausdrücklichkeit, uninteressant und schamlos, nichts anderes als das, was sie ist.
Und was zwischen diesen beiden Literaturepochen verloren ging, war die Negation. Die frühere Epoche hatte Bilder, in denen die darin dargestellte Gesellschaft negiert wurde; die spätere hat diese Bilder nicht mehr. Jedenfalls war das laut Stuart Jeffries die Argumentation Herbert Marcuses. In der klassischen Literatur kommen Charaktere wie Prostituierte, Teufel, Verrückte, rebellierende Dichter vor – Charaktere, welche die bestehende Ordnung stören. In der Literatur der fortgeschrittenen Industriegesellschaft sind sie keine Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sondern eher Launen und Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen. Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries
Von Hans Klumbies