Die Menschen sind auf die Gemeinschaft angewiesen
Die Menschen existieren von Anfang an nur in einer Gemeinschaft oder in Bezug auf sie, da sie evolutionär auf Zusammenarbeit angewiesen sind. Thomas Fischer erläutert: „Ihre Gemeinschaft funktioniert aber nicht wie ein Heringsschwarm, sondern beruht auf individuellem Ich-Bewusstsein und Empathie. Dies setzt ununterbrochenes Beobachten, Prüfen und Deuten der jeweils anderen voraus.“ Das direkte oder indirekte, unmittelbare oder vorgestellte Betrachten der anderen und das Überprüfen, welche Einstellungen, Gefühle und Forderungen diese gegenüber dem Beobachtenden haben, nehmen einen außerordentlich breiten Raum des spezifisch menschlichen Lebens ein. Erst in Lagen existenzieller Bedrohung – Hungersnot, Folter, Konzentrationslager – bricht das System empathischer Kommunikation zusammen. Das ist einer der Gründe, warum in der Ausbildung zum Krieg extrem hoher Wert auf eine formale Außenleitung (Gehorsam) und der Einübung von blinder Kameradschaft gelegt wird. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Die Kommunikation verändert die kommunizierenden Personen
Von entscheidender Bedeutung ist die Fähigkeit zur Kommunikation über abstrakte Zeichen, also über Sprache. Anders als der Alltagsjargon behauptet, enthält sprachliche Kommunikation ja nie „unmittelbaren“ Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken. Sie formt diese vielmehr in überaus komplexen Abstraktionen zu Zeichen, die zugleich allgemein und besonders sind, das Allgemein-Fremde wie das Individuell-Eigene symbolisieren. Sie verändern Innen- und Außenwelt des Sprechenden gleichermaßen.
Thomas Fischer erklärt: „Sprache ist also, wie jedes Symbol, keineswegs (nur) ein äußeres „Werkzeug“ des Bewusstseins, sondern enthält zahlreiche produktive Anteile, die von aktiven Verarbeitungen bewusster und unbewusster Art, Gefühlen, Erinnerungskonstruktionen, Intentionen und Motiven getragen werden und umgekehrt Einwirkungen derselben Art aufnehmen, deuten, verstehen und bewerten muss.“ Auch insoweit gilt also, dass der Prozess der Kommunikation selbst deren Inhalt mitbestimmt und die kommunizierenden Personen verändert.
Die Moral ist keineswegs friedlich oder konstruktiv
Moral ist, was bei der Normativität des Alltags herauskommt: ein mehr oder weniger buntes System von Werten, Anforderungen, Zumutungen, Erwartungen und Beurteilungen. Moral entspringt, soweit man das beurteilen kann, nicht einer „Seele“ des Menschen, sondern seinem wirklichen Leben. Sie spiegelt es wieder und ändert sich mit ihm; ist daher auch weder zufällig noch inhaltlich vorbestimmt, wenn man von wenigen Grundstrukturen absieht, welche die gemeinsame Existenz betreffen und daher zumindest außerordentlich nach an der „Natur“ angesiedelt sind.
Dazu zählen Fürsorge, Mitleid, Zuneigung, Rache. Aus der Sicht des Strafrechts sind das Bedürfnis und die Fähigkeit zum Motiv der Rache besonders wichtig. Moral ist keineswegs im Ursprung oder ihrer Natur nach konstruktiv, friedlich oder angenehm. Die disqualifizierende Beschreibung einer Handlung als „unmoralisch“ ist eine alltagssprachliche Ungenauigkeit, die eigentlich meint, eine Handlung oder Einstellung zeuge von einer „schlechten“ Moral. Es gibt praktisch keine Verhaltensweisen, Einstellungen oder Handlungen, die in verschiedenen Epochen, Situationen, Kulturen stets und übereinstimmend als moralisch begrüßenswert oder umgekehrt als moralische minderwertig angesehen wurden. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer
Von Hans Klumbies