Die „neue“ Autorität wird sich aus einer Gruppe speisen
Die traditionelle patriarchale Autorität ist so gut wie verschwunden, und damit auch die aus ihr folgende freiwillige Unterwerfung unter bestimmte Konventionen. Die fieberhafte Suche nach Ersatz ist bereits in vollem Gange, meist werden zwei radikal verschiedene Antworten angeboten. Die erste Antwort ist der verzweifelte Versuch, zur früheren Autorität zurückzukehren. Das muss scheitern, weil ihre Grundlage verschwunden ist. Paul Verhaeghe erklärt: „In verschiedenen Bereichen herrscht zunehmend Macht ohne Autorität, die Unterwerfung daher erzwingen muss, beispielsweise in Wirtschaft, Politik, Schule und sogar im Gesundheitswesen.“ Die panische Konzentration auf den Terrorismus von Muslimen macht viele Menschen offenbar blind für die viel größere Bedrohung von innen. Die zweite Antwort verspricht eine neue Autorität. „Neu“ steht dabei für eine andere Grundlage und eine andere Wirkweise im Vergleich zum Patriarchat. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Die Demokratie erlischt nach und nach
Paul Verhaeghe hat stark den Eindruck, dass die „neue“ Autorität mit einer radikalen Umkehrung einhergehen wird. Statt aus einer überhöhten, singulären Instanz wird sie sich auf horizontaler Ebene, aus einer Gruppe speisen. Die Versuche, zur früheren Ordnung zurückzukehren, fallen vor allem in der Politik ins Auge. Jede politische Partei verspricht Veränderungen: doch sobald sie jedoch in der Regierung ist, heißt es, es gebe keine Alternative. Das Scheitern der Politiker ist das Scheitern eines überholten Systems.
Wenn Regierende doch mit diesem System arbeiten, zeigt sich eine Verschiebung von Autorität zu Macht, mit einem Schwerpunkt auf Kontrolle von außen und Zwang. Paul Verhaeghe erläutert: „Politische Führer entpuppen sich als Machthaber, sie sind jedoch keine Autoritätspersonen mehr. Die Demokratie erlischt nach und nach, diktatorische Regelungen nehmen zu – weshalb viele Politiker ihr Tun auch derart leidenschaftlich rechtfertigen.“ Eine solche Rechtfertigung kann nur mit dem Verweis auf eine externe Quelle gegeben werden, denn so funktioniert Autorität.
Das murrende Volk wird mit Statistiken überschüttet
Die Kirche hat als wichtigste Säule des Patriarchats ausgedient und sich dessen mittlerweile selbst bewusst. Auch der Nationalismus mit seinen Verweisen auf Tradition und Volksseele hat an Überzeugungskraft eingebüßt. Eine neue Quelle für Autorität darf vor allem nicht anfechtbar sein und muss ein möglichst starkes Sicherheitsgefühl hervorrufen. Mittlerweile haben Politiker diese neue Quelle gefunden: die Statistik. Das murrende Volk wird mit Statistiken überschüttet, die beweisen sollen, dass der entsprechende Vorschlag alternativlos ist.
Sitzungen von Kommissionen beginnen größtenteils mit Spreadsheets – darüber lässt sich in der Tat schlecht diskutieren. Zahlen spiegeln eine kühle, objektive Wirklichkeit wider, sie sind weder links noch rechts, sondern basieren auf wissenschaftlichen Untersuchungen, so heißt es gemeinhin. Dabei kommt es zu einer doppelten Verschiebung, die sich nahezu unbemerkt vollzieht, wenn Autorität ihre Fundierung in Zahlen sucht. Die erste Verschiebung betrifft die Autoritätsperson selbst. Bei der zweiten, noch wichtigeren geht es um den moralischen Charakter der Autorität. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies