Die Neurosenlehre des Victor-Emil von Gebsattel
Victor-Emil von Gebsattel akzeptierte zwar die tiefenpsychologischen Neurosentheorien eines Sigmund Freuds oder Alfred Adlers als grundlegende Einsichten über die psychischen Erkrankungen eines Menschen, bemängelte an ihnen aber die unangemessene Berücksichtigung von Themen wie Verantwortung, Freiheit, Schuld, Gewissen, Sinnfindung, Vernunft, Personalität und Existenz. Victor-Emil von Gebsattel schrieb: „Wenn man von Trieben, Ängsten, Komplexen, Minderwertigkeitsgefühlen, Hemmungen usw. spricht, so muss man das Geistige der menschlichen Persönlichkeit mitreflektieren, um nicht in den Niederungen der Animalität und des Reflexhaften steckenzubleiben.“ Wie schon Søren Aabye Kierkegaard feststellte, ist der Mensch als Existenz oder Person, ein Verhältnis, welches sich zu sich selbst verhält.
In der Neurose scheitert der Mensch an der Selbstverwirklichung
Der Selbstbezug ist laut Victor-Emil von Gebsattel das Geistige am Menschen: er weiß um sich selbst und muss stets zu sich selber Stellung beziehen. Er schreibt: „Dies schließt unter anderem ein, dass er seinem Dasein einen Sinn geben muss durch Entscheidungen, durch Übernahme von Freiheit und Verantwortung und durch Orientierung an Norm- und Richtbildern des menschlichen Existierens.“ Eine Person muss verwirklicht werden. Die Werdenshemmung ist laut Victor-Emil von Gebsattel stets der psychopathologische Zentralbefund, um den sich alle anderen Befunde gruppieren.
Die Aufgabe der Psychotherapie
Eine Psychotherapie ist für Victor-Emil von Gebsattel ein Aufruf zum Werden und Handeln, eine Anleitung zur Individuation, eine Befreiung zum Selbstsein sowie zum Eigentlichwerden der Existenz im Dienste an der Kultur. Seiner Ansicht nach wird echte Personalität nur durch den Abbau der meist fragwürdigen und nivellierenden Werte des kollektiven Daseins erlangt.
Der Mensch muss lernen, den Verlockungen des „man“ zu widerstehen, damit er aus sich selbst heraus den eigenen Weg und die eigene Wahrheit entdecken kann. Laut Victor-Emil von Gebsattel kann ein Mensch der hauptsächlich im Kollektiv existiert, sich von ihm tragen und bestimmen lässt, nicht frei sein.
Kurzbiographie: Victor-Emil von Gebsattel
Victor-Emil von Gebsattel wurde am 4. Februar 1883 in München geboren. Er studierte bei Henri Bergson in Paris, bei Wilhelm Dilthey in Berlin und bei Theodor Lipps in München. Bei letzt genannten promovierte er mit einer Arbeit über die Gefühlstheorie. Als er die Psychoanalyse kennen lernte, war ihm klar, dass ihm eine medizinische Ausbildung fehlte. 1919 schloss er sein Medizinstudium mit einer Dissertation über Tuberkulose ab.
Vor allem seine Forschungen über Zwangsneurosen, Phobien, Depressionen und Perversionen begründeten seinen ausgezeichneten Ruf als Kliniker und Tiefenpsychologe. In seiner so genannten „biographischen Medizin“ ging das philosophische Denken und das wissenschaftliche Forschen eine beachtliche Synthese ein. Victor-Emil von Gebsattel starb am 22. März 1976 im Alter von vierundneunzig Jahren in Bamberg.
Von Hans Klumbies