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Die Scham und die Freiheit bedingen einander

Die Scham, die keinem Menschen fremd sein dürfte, ist ein urmenschliches Gefühl. Wer sich nicht zu schämen vermag, ist keine erwachsene Person, das bemerkte bereits Charles Darwin. Ulrich Greiner erläutert: „Scham bedingt Reflexivität, welche die Abweichung vom Ideal für den Handelnden erst einsichtig macht.“ Im Augenblick der Scham erkennt sich ein Mensch als eine Person, die einen Fehler gemacht hat oder zumindest meint, einen gemacht zu haben, und das Bild, das ihm jetzt entgegentritt, verletzt oder beleidigt jenes Bild, das er von sich selbst hat und er wahren möchte. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Die Scham ist eine Emotion und kann nicht verloren gehen

Für Ulrich Greiner ist Schamhaftigkeit eine Tugend, denn nur wer sich schämt, betrachtet sich in einem moralischen Sinn und versteht sich als eine Person, die moralisch fehlbar ist. Moralisch fehlbar zu sein bedarf jedoch nicht nur der Selbstreflexion, sondern auch der Freiheit. Der Sündenfall erzählt genau diese Verschränkung von Freiheit und Scham und zeichnet den Menschen als Wesen, der sich nicht nur seines nackten Körpers schämt, sondern überhaupt schämt, weil es in der Lage ist, seine Freiheit zu nutzen und entsprechend auch zu fehlen.

Erst indem Gott ein Verbot in die Welt setzt, schafft er die Möglichkeit zu dessen Übertretung. Damit erst ist der Mensch frei, diese Regel auch zu brechen und sich dann dafür zu schämen. Das unschuldige Kleinkind kennt das Gefühl der Scham noch nicht, aber es ist auch unfrei, es ist gefangen in seinen Trieben, zu denen es sich nicht verhalten kann. Schamhaftigkeit ist dem erwachsenen Menschen stets eigen. Insofern handelt es sich dabei um eine Emotion, deren man nicht verlustig gehen kann.

An die Stelle der Scham tritt zunehmend die Peinlichkeit

Dennoch schämen sich viele Menschen weniger als früher, es besteht die Tendenz eines Schamverlusts. Tatsächlich ging die Entformalisierung der Gesellschaft auch einher mit einer Entmoralisierung – insbesondere im Bereich der intimen und privaten Sphäre. Diese Entmoralisierung brachte der Soziologe Richard Sennet schon den 1980er Jahren in Zusammenhang mit einer zunehmenden Aufhebung der Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Das, was Richard Sennet als „Tyrannei der Intimität“ bezeichnete, wird im World Wide Web mittlerweile in einer synästhetischen Parforcetour inszeniert.

Doch der Trend zu flexibleren Regeln bedeutet nicht: anything goes, alles geht. Der Schamverlust, der sich breitmacht, wird vielmehr überdeckt von wachsenden Peinlichkeitsgefühlen. Die meisten Menschen schämen sich also immer noch. Doch an die Stelle der Scham tritt zunehmend Peinlichkeit. Peinlichkeit ist dabei deutlich schwächer als Scham. Der Anlass ist geringfügiger. Es geht nicht mehr um ein Vergehen moralischer Natur. Aber auch die Peinlichkeit bedarf wie die Scham der Reflexivität – allerdings nicht hinsichtlich des Selbstbildes, das mit moralischen Idealen und Vorbildern in Einklang gebracht werden soll. Sondern die Reflexivität, die Peinlichkeit empfinden lässt, bemisst sich an Bildern, die andere sich von einem machen. Quelle: „Neue Menschen“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies

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