Erinnerungen können verschwinden
Erinnerung ist kein Ort im Gehirn, an dem etwas von früher gespeichert wäre. Man realisiert sie in der Gegenwart, für andere und vor anderen. Sonst wäre das, woran man sich erinnert, gar nicht mittelbar. Valentin Groebner erläutert: „Deswegen verblassen Erinnerungen, die ich anderen nicht erzähle, und verschwinden. Häufiger aufgerufene Episoden aus meiner eigenen Vergangenheit dagegen verändern sich genau dadurch, dass ich mich an sie erinnere und sie dabei aufdatiere.“ Sich an etwas zu erinnern heiß, es durch Benutzung umzuschreiben. Der Speicher im Kopf unterscheidet nicht zwischen Träumen, Filmen, Fotografien und tatsächlich Geschehenem. Valentin Groebner lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Erinnerung hat nicht sehr viel mit Vergangenheit zu tun
Alles baut das Gehirn unterschiedslos weiter und baut es ineinander. Gedächtnis ist ständiges Aufdatieren. Und wie jedes Archiv verändert es das Material, das es aufbewahrt. Valentin Groebner behauptet: „Erinnerung hat einfach nicht sehr viel mit der Vergangenheit zu tun.“ Woran sich Menschen erinnern, schreibt der holländische Gedächtnisforscher Douwe Draaisma, hänge von der Geschichte ab, für die sie diese Erinnerung benötigen. Große Folgen müssen in der Rückschau auch große Ursachen gehabt haben. Also erinnern sich dazu befragte Personen im Nachhinein auch an sie.
Juristen, Ärzte und Psychologen kennen das Phänomen als Rückschaufilter. Valentin Groebner erklärt: „Jeder Mensch neigt dazu, diejenigen Informationen zu suchen und bevorzugt zu behalten, die das bestätigen, was er bereits zu wissen glaubt. Deswegen nehme ich Vergangenes immer als eindeutiger, eigentlicher und weniger von Widersprüchen und Zweifeln besetzt wahr als dieses unübersichtlich Jetzt.“ Erinnerungen haben eine so starke Wirkung, weil sie vieles weglassen. Man erinnert sich nur an Abkürzungen und an Eingedicktes.
Menschen sind emotionale Zeitreisende
Jedes Reden über die eigene Geschichte verschafft einem Menschen eine neue, jeweils passende Vergangenheit: „So möchte ich geworden sein.“ Denn Informationen, die man nach einem Erlebnis erhält, verändern die Erinnerung an das Erlebte, ohne dass man zwischen der älteren und der neueren Version unterscheiden könnte. Man kann nur sehr schlecht abschätzen, wieviel das fleißige Gehirn dem Vergangenen hinzugefügt hat. Sondern man projiziert auch seine eigenen Empfindungen und Wertungen in die Vergangenheit zurück.
Valentin Groebner stellt fest: „Ich bin ein emotionaler Zeitreisender, ohne es selbst auch nur zu bemerken. Und bitte nehmen Sie es nicht persönlich, aber bei Ihnen ist es genauso. Je älter eine Person wird, desto intensiver erinnert sie sich an Ereignisse, die sie zwischen 14 und 24 erlebt hat.“ Sie findet in dieser Phase das wieder, was sie vermeintlich ausmacht – nachträglich. Das wird dann „meine Zeit“. Bei Popmusik mit dem Ergebnis, dass die beste Musik dann gemacht wurde, als man selbst Anfang 20 war. Quelle: „Bin ich das?“ von Valentin Groebner
Von Hans Klumbies