Es gibt verschiedene Schuldarten
Für Helga Kernstock-Redl gibt es bei näherer Betrachtung unterschiedliche Schuldarten. Die „Moral-Schuld“ ist eine Frage der Ehre. Gute Menschen tun dies oder jenes nicht. Daneben steht die konventionelle oder „Regel-Schuld“. In einem Umfeld gelten diese, im anderen andere soziale Regeln. Schon früh unterscheiden Kinder diese beiden Schuldarten. Sie bewerten die Moral-Schuld völlig anders als eine bloße Regel-Schuld. Für allergrößte Verwirrung sorgt jedoch die dritte Form, die „Ursachen-Schuld“. Helga Kernstock-Redl weiß: „Schuldgefühle und die dahinter stehenden Regeln können eingeredet werden. Sei es manipulativ oder mit guter Absicht. Manches ist ein simples Missverständnis, verursacht durch Ungenauigkeiten unserer Sprache.“ Es gibt in zwei von zehn Fällen weitere Ursachen, die einem Schuldgefühl zugrunde liegen. Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.
Das Schuldgefühl verschickt Botschaften
Vielleicht ist das Schuldgefühl Ausdruck einer „Gefühls-Infektion“. Gefühle sind nämlich ansteckender als jede Grippe, weil Empathie im Spiel ist. In Gegenwart eines Menschen, der sich immer schuldig fühlt, kann man selbst sofort das Gleiche empfinden. Man schwingt dabei mit dem Gefühl des anderen mit. Die Alltagssprache nennt es Mitleid. Helga Kernstock-Redl schreibt: „Ich fühle empathisch, was du fühlst – so stark dass es anstrengend ist, das Eigene vom anderen zu unterscheiden.“
Eine weitere Ursache sind Erlebnisse reiner, unschuldiger Ohnmacht. Diese Form taucht sehr häufig bei extrem oder frühkindlich traumatisierten Menschen auf. Das Schuldgefühl schickt einem Menschen die Botschaft über einen Gesetzesbruch: „Du hast etwas falsch gemacht.“ Indirekt suggeriert es jedoch damit eine zweite Botschaft: „Du hättest es also richtig machen können. Du hattest die Wahl. Das nächste Mal kannst und musst Du besser sein.“ Was auf den ersten Blick als mühselige Aufforderung zur Verhaltensänderung erscheint, kann in der Not zu einem wichtigen Überlebensfaktor werden.
Das Schuldgefühl kann als Schutzmantel dienen
Das Schuldgefühl erzeugt Illusionen der Kontrolle, eine Überlebensstrategie der Psyche, um lähmende Hoffnungslosigkeit nicht spüren zu müssen. Daher bezeichnet man diesen Mechanismus in der Schematherapie nach Eckhart Roedinger als Escape-Strategie. In dieser Schutzmantelfunktion überdeckt das Schuldgefühl fallweise unerträgliche Trauer, Wut, erloschene Liebe oder Angst. Immer stehen dann Gefühle oder Tatsachen dahinter, die nach Ansicht der eigenen Psyche noch weit unerträglicher wären.
Darunter fallen auch die bösen Seiten von überlebenswichtigen Personen. Misshandelte Kinder, betrogene Erwachsene oder Entführungsopfer fühlen plötzlich, als wären sie an ihrer Not selbst schuld. Letzteres wurde unter dem Namen „Stockholm-Syndrom“ bekannt. Die Psyche kann als Schuldgefühle in einer Notsituation erfinden – als Überlebensstrategie und Schutzmantel. Schuldgefühle tauchen also natürlich nicht nur aufgrund verständlicher Ursachen auf, sie verfolgen auch nützliche Ziele. Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl
Von Hans Klumbies