Es herrscht eine tiefe Unsicherheit über das Gefühlsleben
Viele Menschen haben die Aufgabe, ihr Sexual- oder Liebesleben zu retten, zu gestalten und anzuleiten, den Psychologen übergeben. Die Vertreter dieser Zunft konnten ihre Klienten zwar mit durchaus bemerkenswertem Erfolg davon überzeugen, dass ihre sprachlichen und emotionalen Techniken ihnen womöglich ein besseres Leben ermöglichen. Doch Eva Illouz hat ihre Zweifel: „Für das aber, was unser Liebesleben kollektiv plagt, haben sie wenig bis gar kein Verständnis gezeigt.“ Was trotz aller psychologischer Beratung, Workshops und Selbsthilfebüchern vorherrscht, ist eine tiefe, bohrende Ungewissheit über das Gefühlsleben. Viele Menschen haben Probleme damit, ihre eigenen und die Gefühle anderer zu verstehen. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.
Die Ideologie der individuellen Wahl führt zur Konfusion im Liebesleben
Und nur mit Mühe, wenn überhaupt, können diese verunsicherten Menschen herausfinden, wann und wo man Kompromissen machen muss. Oder was man selbst anderen beziehungsweise, was diese einem selbst schuldig sind. Die Psychotherapeutin Leslie Bell schreibt: „In Interviews und in meiner psychotherapeutischen Praxis mit jungen Frauen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie nicht nur stärker als je zuvor darüber verunsichert sind, wie sie das bekommen, was sie wollen, sondern auch darüber, was sie überhaupt wollen.“
Eine solche Desorientiertheit, die in den Sprechzimmern von Psychologinnen so weit verbreitet ist wie außerhalb, wird oft als Folge der Ambivalenzen der menschlichen Seele verstanden. Als Auswirkung eines verspäteten Eintritts ins Erwachsenenalter oder einer psychischen Konfusion, die von widersprüchlichen kulturellen Botschaften über Weiblichkeit hervorgerufen wird. Für Eva Illouz allerdings ist die emotionale Ungewissheit im Bereich von Liebe, Romantik und Sexualität die direkte soziologische Folge einer Ideologie der individuellen Wahl.
Die Ungewissheit in den zeitgenössischen Beziehungen ist ein soziologisches Problem
Diese Ideologie hat den Konsummarkt, die therapeutische Industrie und die Internettechnologie zu einem einzigen Komplex verschmolzen. Sie ist damit selbst zum wichtigsten kulturellen Rahmen der Organisation von persönlicher Freiheit geworden. Die Art von Ungewissheit, welche die zeitgenössischen Beziehungen plagt, ist also ein soziologisches Phänomen. Es gab sie nicht schon immer, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Sie hatte nicht den Inhalt, den sie heute für Männer und Frauen hat. Und zweifellos zog sie nicht die systematische Aufmerksamkeit von Experten und Wissenssystemen aller Art auf sich.
Eva Illouz stellt fest: „Die Flüchtigkeit, die Rätsel und die Schwierigkeiten, die so charakteristisch für viele Beziehungen sind und zugleich zu einer endlosen psychologischen Kommentierung Anlass bieten, sind eindeutig der Ausdruck einer allgemeinen Ungewissheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen.“ Dass so viele Menschen heutzutage unter derselben Ungewissheit leiden, ist kein Zeichen der Universalität eines selbstwidersprüchlichen Unbewussten. Sondern es ist vielmehr eines der Globalisierung der Lebensbedingungen. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz
Von Hans Klumbies