Essstörungen haben viele Ursachen
Komplexe Krankheitsbilder wie Störungen des Essverhaltens haben immer viele Ursachen, die zudem noch nicht bis ins Letzte bekannt sind. Reinhard Haller weiß jedoch: „Eine Kränkung kann aber Teilursache und eine kränkende Bemerkung Auslöser sein. Vornehmlich dann, wenn diese eine sensible Stelle trifft.“ Bei Ess-/Brech-Störungen ist dies vordergründig meist die Angst, dem heutigen Schönheitsideal nicht zu entsprechen oder die weibliche Rolle nicht erfüllen zu können. Oder zu wollen. Unbewusst lassen sich Selbstwertzweifel, Probleme bei der Identitätsfindung, Gefühle der Sinnlosigkeit, Lebensdefizite, aber auch Depressionen sowie nicht überwundene Kränkungen erkennen. Essstörungen sind, obwohl sie in den reichen Ländern seit einigen Jahrzehnten zunehmen, keine neuen Krankheiten. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).
Essstörungen betreffen zu 80 Prozent Frauen
Appetitlosigkeit und Essprobleme treten in Begleitung vieler körperlicher und psychischer – vor allem depressiver – Krankheiten auf. Man unterscheidet zwei große Gruppen: die fälschlicherweise auch als Pubertätsmagersucht bezeichnete Anorexia nervosa, bei der sich die Betroffenen hartnäckig weigern, auch nur ein Minimum ihres normalen Körpergewichst zu halten. Reinhard Haller ergänzt: „Bei der Bulimia nervosa wechseln sich „Fressanfälle“ und verschiedenste Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ab. Etwa selbstinduziertes Erbrechen, langes Fasten, exzessiver Sport oder Missbrauch von Abführ- und Abmagerungsmitteln.“
Reinhard Haller stellt fest: „Den Störungen, die zu 80 Prozent Frauen betreffen und von denen etwa 0,5 Prozent aller Frauen erfasst sind, liegt eine gestörte Selbstwahrnehmung zugrunde.“ In ihrem Empfinden ist das Körpergewicht viel zu hoch und dadurch die Gesamtfigur schwer gestört. Mit anderen Worten heißt dies, dass das Selbstwertgefühl von Menschen mit Essstörungen überwiegende von ihrer Figur, ihrem Gewicht und ihrer als „Selbstdisziplin“ empfundenen Fähigkeit, dieses zu reduzieren, abhängt.
Bis zu zehn Prozent der Anorexie-Patienten verhungern
Schwere und lebensbedrohende Konsequenzen der Mangelernährung irritieren nicht oder werden komplett verdrängt. Selbst das Wissen, dass bis zu zehn Prozent der Anorexie-Patienten verhungern, hindert nicht an ihrer Überzeugung und ihrem Verhalten. Die vielfältigen Ursachen der Essstörungen reichen von erblicher Belastung bis zu emotional gestörten Familienverhältnissen. Man kann jedoch auch nachweisen, dass der Beginn der Krankheiten sehr oft mit belastenden Lebensereignissen und mit Kränkungen verbunden ist.
Kränkungen richten sich ja immer wie die Essstörungen gegen das Selbstwertgefühl. Reinhard Haller fügt hinzu: „Kränkungen führen ebenso zur Ablehnung des eigenen Körpers und der eigenen Person. Kränkungen resultieren aus Beziehungskonflikten, denen Anorexie-Patienten ausgesetzt sind.“ Mit Essstörungen und Kränkungen wird oft die Weigerung unterdrückt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen. Schließlich ist der lang dauernde und schwierige Krankheitsprozess der Essstörungen mit einer Unzahl von Kränkungen auf beiden Seiten verbunden. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies