Gewalt gegen Kinder ist ganz normal
Weniger Gewalt, mehr Vielfalt, mehr Nähe und Vertrauen. So könnte man den Trend in der Kindererziehung in den letzten zwei bis drei Generationen zusammenfassen. Herbert Renz-Polster erläutert: „Er spiegelt sich regelmäßig in Befragungen und Erziehungszielen der Eltern wieder. Und doch gibt es noch eindeutig zu viel Erziehungsnot, um in Jubelarien auszubrechen.“ Ein Sechstel der deutschen Kinder wächst in Armut und Unsicherheit auf. Über ein Drittel erlebt schwere soziale Krisen, wie etwa die Scheidung der Eltern. Nicht einmal dreißig Prozent der deutschen Kinder wachsen ohne Gewaltanwendung im Elternhaus auf. Nach wie vor wird das Entwicklungskapital vieler Kinder in einem auf Auslese und Wettbewerb gerichteten Erziehungssystem geschälert. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster hat die deutsche Erziehungsdebatte in den letzten Jahren wie kaum ein anderer geprägt.
Ein fürsorgliches Leben mit Kindern wird immer schwieriger
Und dann ist in den letzten dreißig Jahren noch der Schatten eines auf immer größere Effizienz und Produktivität zielenden Wirtschaftssystems auf die Kindheiten gefallen. Von vielen Familien wird jetzt genau das verlangt, was einem fürsorglichen Leben mit Kindern leicht den Strom abdreht. Nämlich eine hohe Erwerbsbeteiligung, flexible Verfügbarkeit, Termindruck, unsichere Arbeitsverhältnisse. Besonders die Mütter – zumal alleinerziehende Mütter – werden in einen schmerzhaften Spagat gezwungen.
Die Mütter sollen jetzt einerseits die Fachkräfte von morgen gebären und großziehen – dabei aber auch selbst als Fachkraft bereitstehen. Als Folge dieser Entwicklung spielt sich Kindheit nun auch in Deutschland immer stärker in einem größtenteils institutionalisierten und nach Erwachsenenzielen strukturierten Rahmen ab. Herbert Renz-Polster nennt diese programmierten, auf die Konkurrenz um die knappen Aufstiegspositionen zugeschnittenen Kindheiten auch „Kindheiten der Globalisierung“. Sie sind geprägt von einem hohen Funktionsanspruch und der Rationierung von familiären Beziehungen.
Rechter Autoritarismus prägt die neuen Bundesländer
Zudem bringt die Einschränkung der kindlichen, spielerischen Selbstgewährung die kindliche Entwicklung in eine neue Form der Bedrängnis. Wer auf die neuen Bundesländer blickt, wird laut Herbert Renz-Polster auf eine inzwischen gut bekannte Mischung stoßen: prekäre Kindheiten – und ein hohes Maß an rechtem Autoritarismus in der Gesellschaft. Anders als in der Bundesrepublik wurde in der DDR die Kindererziehung von Anfang an politisch eingerahmt und mit einem ungeheuren Reformwillen und auch Optimismus neu gedacht.
Der bisherigen familiären, „bürgerlichen“ Erziehung brachte man in der DDR einiges Misstrauen entgegen und rückte schon deshalb die öffentliche Erziehung der Kinder in den Vordergrund. Schließlich wollte man eine Gesellschaft schaffen, in der die Klassenunterschiede aufgehoben und Mann und Frau gleichberechtigt sind. Nach der damaligen Auffassung bedeutete das auch, dass die Mütter möglichst weitgehend in den Erwerbsprozess zu integrieren seien. Eine Auffassung, der sich inzwischen auch die damaligen Gegenspieler der Kommunisten weitgehend angeschlossen haben. Quelle: „Erziehung prägt Gesinnung“ von Herbert Renz-Polster
Von Hans Klumbies