Narzissten werden von niemandem geliebt
Häufig anzutreffen ist der Narzissmus bei leicht reizbaren, aggressiven jungen Männern, die meistens aus patriarchalischen Milieus kommen. Dort werden sie einerseits idealisiert, weil sie nicht dem abgewerteten weiblichen Geschlecht angehören, andererseits von dominanten Vätern erniedrigt oder gar geschlagen werden. Joachim Bauer weiß: „Der Narzissmus findet sich bei beiden Geschlechtern. Die Sucht, sich permanent mit Smartphones aufnehmen und über die Medien anderen zeigen zu müssen, um dafür Anerkennung zu erhalten, zeigt dies überdeutlich.“ Narzissten fügen sich und anderen meistens sehr viel Schaden zu, bevor sie den Weg zu einem Psychotherapeuten finden. Auslöser dafür, sich therapeutische Hilfe zu holen, sind meistens sogenannte narzisstische Krisen, die sich einstellen, wenn der Narzisst erkennt, dass er zwar von allen gefürchtet, aber von niemandem geliebt wird. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Abhängigkeit zeigt sich in einem breiten Spektrum
Abhängige Menschen sind das zu Narzissten komplementäre Gegenstück. Abhängigkeit kann sich, vor allem hinsichtlich ihres Schweregrads, in einem breiten Spektrum zeigen. Joachim Bauer betont: „Abhängige Menschen haben, nicht mehr und nicht weniger als alle Menschen, den Wunsch, eine Person mit Würde, ein Jemand zu sein, dem Respekt und Anerkennung entgegengebracht werden.“ Das Selbst-Element, das für diesen Wunsch steht, repräsentiert einen in jedem Menschen vorhandenen, gesunden Anteil.
Ihr Problem haben abhängige Menschen, weil sie einen weiteren Selbst-Anteil internalisiert haben, der ihnen ständig einflüstert, sie seien weniger wert als andere, andere würden auf sie herabschauen oder sie benachteiligen. Nicht selten handelt es sich bei diesem „Programm“ um eine Mischung aus konstruierten und realen Elementen. Eine solche Mischung liegt vor, wenn abhängige Menschen aus sozial benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen kommen, in der Kindheit unterversorgt waren und ihnen später Bildungsmöglichkeiten und die Partizipation an den kulturellen Angeboten der Gesellschaft verwehrt werden.
Die Leitfigur ist in der Regel ein ausgeprägter Narzisst
Leider tun sich diese Menschen in den seltensten Fällen zusammen, um sich die gesellschaftliche Teilhabe politisch zu erkämpfen und selbst etwas an ihrer Situation zu verändern. Stattdessen delegieren sie ihre ungestillten Wünsche nach Würde, Anerkennung und Respekt oft an eine Leitfigur im persönlichen Umfeld oder im öffentlichen Raum. Diese verspricht den Abhängigen, sozusagen stellvertretend für sie in den Kampf zu ziehen und ihnen die verweigerte Wertschätzung zu verschaffen.
Joachim Bauer stellt fest: „Die Leitfigur ist in der Regel ein ausgeprägter Narzisst.“ Wenn es sich um eine öffentliche Figur handelt, dann braucht der Narzisst die auf ihn gerichteten Sehnsüchte der Massen von Abhängigen, die ihm spiegeln, dass er ein Großer sei. Die in der Masse versammelten Abhängigen erleben in der narzisstischen Führungsfigur einen externen, sozusagen ausgelagerten Teil ihres verletzten, sich nach Größe sehnenden Selbst. Dieses verspricht der Größenwahnsinnige nun heil und groß zu machen. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies