Kleinkinder vertragen keinen chronisch hohen Stress
Kurze Trennungen von der Mutter sind für Kleinkinder Stresssituationen, die jedes Kleinkind durchstehen muss, wenn die Hauptbezugsperson fortgeht, um hoffentlich bald zurückzukommen. Walter Mischel fügt hinzu: „Schon in der Mitte des zweiten Lebensjahres unterscheiden sich Kleinkinder deutlich in ihrer Bindung and die Hauptbezugsperson: Sie sind entweder unsicher, sicher oder ambivalent gebunden. Wie sie sich in solchen Situationen der Trennung und des Wiedersehens verhalten, gibt uns einen ersten Einblick in ihre Beziehungen und Bewältigungsstrategien der frühen Lebensjahre.“ Neugeborene werden zunächst fast völlig von ihrem inneren Zustand und den Bezugspersonen bestimmt, von denen sie abhängig sind. In den ersten Monaten nach der Geburt besteht die Hauptbeschäftigung der Bezugsperson darin, das Neugeborene zu beruhigen, zu wiegen, zu füttern und zu hätscheln – und zwar Tag und Nacht. Walter Mischel gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Psychologen der Gegenwart.
Ein Kleinkind benötigt enge und einfühlsame Bindungen
Wie liebevoll und einfühlsam Neugeborene behandelt werden – beziehungsweise wie sehr sie vernachlässigt oder sogar missbraucht werden –, wird in ihr Gehirn eingraviert und bestimmt maßgeblich, wie sie sich künftig entwickeln. Es kommt entscheidend darauf an, dafür zu sorgen, dass das Kleinkind keinem chronisch hohen Stress ausgesetzt ist. Enge, einfühlsame Bindungen sorgen dafür, dass sich Babys emotional geborgen und sicher fühlen. Die Plastizität des Gehirns lässt Kleinkinder im ersten Lebensjahr für Schädigungen ihre wichtigsten neuronalen Systeme höchst anfällig werden.
Zu Schädigungen kommt es beispielsweise dann, wenn sie extrem negative Erfahrungen machen, etwa grobe Misshandlungen erleben oder mit gefühlskalten, wenig zugewandten Bezugspersonen im Heim aufwachsen. Walter Mischel ergänzt: „Erstaunlicherweise können schon weit schwächere Stressfaktoren gravierende Auswirkungen haben, etwa anhaltende Konflikte zwischen Eltern, selbst wenn es dabei nicht zu körperlicher Gewalt kommt.“ Die frühen emotionalen Erfahrungen von Babys hinterlassen dauerhafte Spuren in der Architektur ihres Gehirns, und dies kann sich auf ihre weitere Entwicklung stark auswirken.
Mit zwei Jahren strebt das Kind nach Unabhängigkeit
Bereits wenige Monate nach der Geburt können Bezugspersonen ihre Kinder von Stressgefühlen ablenken und ihre Aufmerksamkeit auf für sie interessante Aktivitäten richten. Mit der Zeit lernen die Babys so, sich selbst abzulenken, um sich zu beruhigen. Walter Mischel erklärt: „Auf neuraler Ebene beginnt sich beim Baby der mittlere Stirnlappen des Gehirns als Steuerungssystem für die Aufmerksamkeit zu entwickeln; es beruhigt und reguliert ihre negativen Emotionen.“ Wenn alles gut geht, werden sie weniger reflexgesteuert und mehr vernunftgesteuert sein.
Dann werden sie es auch schaffen, ihre Ziele, Gefühle und Absichten entsprechend auszudrücken. Wie Eltern wissen, fällt der zweite Geburtstag oftmals mehr oder minder mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem ihr Kind seine ungeschriebene Unabhängigkeitserklärung abgibt. In seinen frühen revolutionären Phasen macht dieses Streben nach Unabhängigkeit das Leben für die Bezugspersonen – gelinde gesagt – zu einer Herausforderung. Mit etwa zwei oder drei Jahren können Kinder allmählich Kontrolle über ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen ausüben. Quelle: „Der Marshmallow Test“ von Walter Mischel
Von Hans Klumbies